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Am 1. September 1939 begann die deutsch-sowjetische Invasion – 80 Jahre später bittet Deutschland um Vergebung, während Russland die Schuld auf Polen schiebt

Lesezeit: 7 Minuten

Von Olivier Bault.

Dieser Artikel wurde ursprünglich in zwei Teilen in der französischen Tageszeitung Présent veröffentlicht.

Polen – Der 1. September 1939 wurde mit dem Beginn der Invasion Polens durch Deutschland gekennzeichnet, der die Sowjetunion sich am 17. September aufgrund des am 23. August 1939 in Moskau unterzeichneten sog. deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts (auch Hitler-Stalin-Pakt bzw. Molotow-Ribbentrop-Pakt genannt) anschließen wird. Für die Polen handelt es sich um die 4. Teilung Polens nach den drei Teilungen der Königlichen Republik

Polen-Litauen, die am Ende des 18. Jahrhunderts zwischen Preußen, Russland und Österreich vonstattengingen. Die 1918 wiedererlangte Unabhängigkeit, die erfolgreich von der II. polnischen Republik gegen Deutschland und die Sowjetunion im Polnisch-Sowjetischen Krieg verteidigt werden konnte, dauerte nur zwanzig Jahre. Für die Welt stellt der 1. September 1939 den Beginn des II. Weltkriegs dar, der noch mörderischer – insbesondere für die Zivilbevölkerung – werden sollte.

Sie hatten die Wahl zwischen Krieg und Unehre; Sie haben die Unehre gewählt und werden den Krieg bekommen,“ hatte Winston Churchill im britischen Unterhaus dem Premierminister Neville Chamberlain nach dem Münchner Abkommen 1938 entgegengehalten. Frankreich und Großbritannien hatten die Annexion des tschechoslowakischen Sudetenlandes durch Deutschland angenommen, doch nach dem deutschen Angriff vom 1. September 1939 erklärten Paris und London – die mit Warschau durch einen Vertrag verbunden

waren – diesmal Hitler am 3. September den Krieg. Die Schlagzeilen der damaligen polnischen Presse in den zwei Wochen vor der Invasion durch die Rote Armee im Osten widerspiegeln ein festes Glauben an eine großangelegte Offensive gegen Deutschland durch die Westalliierten. Es war offensichtlich, dass Polen allein Deutschland nicht besiegen konnte, und die Rolle der Polen in

diesem Krieg war es, nur möglichst lange durchzuhalten, um die Eröffnung einer zweiten Front zu ermöglichen. Die Polen erledigten tapfer ihren Teil doch Frankreich und Großbritannien wählten erneut die Unehre, indem sie sich mit dem sog. Sitzkrieg begnügten, während Deutschland die Strategie des Blitzkriegs in Polen erfolgreich durchführen konnte.

Das Bild der polnischen Kavallerie, die mit Pferden die deutschen Panzer angreife, bleibt in der französischen Vorstellung sehr lebhaft. Dieses Bild wurde von der polnischen kommunistischen Propaganda der Nachkriegszeit noch mit dem Ziel verstärkt, die II. Republik der Periode 1918-1939 zu diskreditieren bzw. stellte Andrzej Wajdas Film „Lotna“ diesen wahnsinnigen Angriff als

historisch dar, der in Wirklichkeit niemals stattgefunden hat. Ja, Polen hatte 1939 Kavallerieeinheiten zu Pferd, doch Deutschland und die Sowjetunion genauso bzw. spielten diese Einheiten eine Rolle bei der Aufklärung bzw. beim Angriff von feindlichen Infanterieeinheiten. Trotz allem konnte Polen nur 150 Panzer und 400 Kampfflugzeuge den teilweiwe moderneren 2600 Panzern der

Wehrmacht und 2000 Flugzeugen der Luftwaffe entgegenstellen. Nichtsdestotrotz haben die Polen auf der Westerplatte, dem polnischen Militärposten im Hafen der Freien Stadt Danzig, dessen Einwohner auf der deutschen Seite standen, auf der Halbinsel von Hela, in Warschau und sonstwo einen entschlossenen und harten Widerstand gegen die deutschen Streitkräfte geleistet, auch nach dem 17. September, als die Lage hoffnungslos wurde, nachdem die sowjetischen Truppen einmarschiert waren. Die polnische Hauptstadt kapitulierte erst am 27. September, die Festung Hela an der Ostsee

leistete Widerstand bis zum 2. Oktober und die letzte Stadt, die in die Hände des Feindes fiel, war Kock (Woiwodschaft Lublin). Im Vergleich zu den 66.000 Gefallenen und beinahe 134.000 Verwundeten auf polnischer Seite während der Kämpfe des Septemberfeldzuges hatten die Deutschen doch über 17.000 Gefallene und 40.000 Verwundete zu beklagen, was auch nicht wenig ist.

Polen selbst kapitulierte nie. Ein Teil der polnischen Streitkräfte wurde über Ungarn – das mit Polen durch eine Jahrhunderte alte Freundschaft verbunden ist, die den gesamten Krieg durch stärker als das Gelegenheitsbündnis mit Berlin blieb – nach Rumänien evakuiert, das in dieser Zeit neutral war. Diese polnischen Streitkräfte schlossen sich der Westfront an und nahmen am Feldzug von Mai 1940 bzw. an allen anderen Feldzügen der Alliierten bis 1945 teil. Die 144 polnischen Piloten spielten ihrerseits eine entscheidende Rolle in der Schlacht um England, indem sie 5% der RAF-Piloten darstellten und für 12% der Verluste der Luftwaffe verantwortlich waren. Nach der Niederlage Frankreichs und dem Anfang der Kollaborationspolitik durch die französische

Vichy-Regierung blieb die polnische Exilregierung in London an der Spitze der größten bewaffneten Widerstandsorganisation im von Nazi-Deutschland besetzten Europa, der sog. polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa).

Die Zivilbevölkerung wurde ab dem 1. September zum Ziele der Bombardements der Luftwaffe, die viele Opfer verursachten. Andererseits führten die Wehrmacht und andere deutsche Einheiten wie die Einsatzgruppen zwischen dem 1. September und dem 26. Oktober – als das Oberkommando der Wehrmacht die Kontrolle über die besetzten Gebiete in Polen innehatte – 764 Massenexekutionen von Zivilisten und Soldaten durch, bei denen in etwa 24.000 polnische Staatsbürger umgebracht wurden. Unter den so exekutierten Zivilisten befanden sich ehemalige Aufständische aus der Zeit von 1918-1921 in

Großpolen (Wielkopolska) bzw. Oberschlesien (Śląsk), von denen die Deutschen Listen aufgestellt hatten.

Als erstes im II. Weltkrieg angegriffenes Land ist Polen auch das Land mit dem größten Blutzoll im Vergleich zu dessen Bevölkerung: etwa sechs Millionen polnische Bürger wurden getötet, darunter ca. drei Millionen Juden, die großteils im Rahmen der Schoah ausgerottet wurden und eine Million Polen, die von den Sowjets zwischen 1939 und 1941 getötet wurden – auf einer Gesamtbevölkerung von 35 Millionen Einwohnern, darunter 3,3 Millionen Juden, im Vorkriegspolen. Der polnische bzw. jüdische Rassenfeind der

Deutschen war der Klassenfeind der Sowjets, auch wenn andererseits die polnischen Juden innerhalb der von den Sowjets Polen auferzwungenen kommunistischen Machtführung überrepräsentiert waren. Zwischen 1939 und 1941 wurden zahlreiche Gefangene ausgetauscht bzw. fuhren die deutschen Panzer mit sowjetischem Öl während des Blitzkriegs gegen Frankreich im Mai 1940. Die deutsch-sowjetische Demarkationalinie in Polen wurde am 28. November 1939 eingerichtet.

Auf der deutschen Seite wurde der gesamte Westteil Polens – zwischen Deutschland und Ostpreußen – dem Reich einverleibt (Danzig-Westpreußen bzw. Reichsgau Wartheland). Die Polen und Juden, die aus diesen Gebieten vertrieben wurden, durften bei Androhung der Todesstrafe nicht dorthin zurück. Für die übrigen von den Deutschen besetzten Gebiete wurde ein Generalgouvernement mit Generalgouverneur Hans Frank, dem „Schlächter von Polen“, an dessen Spitze eingerichtet. Am 6. Februar 1940, als der sog. Sitzkrieg im Westen fortdauerte, erklärte Hans Frank im Gespräch mit dem Völkischen Beobachter: „Wenn ich Plakate möchte anbringen lassen, um die Exekution von jeder siebenköpfigen Gruppe von Polen anzukündigen, dann gäbe es in Polen nicht genug Wälder, um das notwendige Papier herzustellen.“

(1) Während das nationalsozialistische Deutschland sich zum Ziel gegeben hatte, die jüdische Bevölkerung zu liquidieren und die polnische Bevölkerung zu mindern um einen sog. „Lebensraum“ für das „Herrenvolk“ zu schaffen, vertrieb die Sowjetunion alle potentiellen bzw. vermuteten Feinde des Kommunismus in das GuLag nach Sibirien, woher die meisten nicht zurückkamen. So offenbart das am 28. November 1940 in Wilna – zwischen den beiden Weltkriegen eine polnische Stadt bzw. die historische Hauptstadt Litauens – vom Volkskommissar der Sozialistischen Sowjetrepublik Litauen

veröffentlichte Dekret Nr. 0054 der NKWD die Kategorien der zu deportierenden Menschen: die Mitglieder von politischen Parteien, die ehemaligen aus der kommunistischen Partei ausgeschlossenen Mitglieder, die Flüchtlinge, die Ausländer, die Menschen, die im Ausland gereist seien, die Menschen, die Esperanto lernten, die Briefmarkensammler, das Personal des Roten Kreuzes, die Menschen, die sich in ihrer Pfarre engagierten, die Mitglieder des Klerus, die aktiven Mitglieder der religiösen Gemeinschaften, die

Aristokraten, die Landbesitzer, die wohlhabenden Kaufleute, die Bankiers, die Industriellen, die Gastwirte und die Hoteliers. (2)

Das heißt, dass die Besatzung nicht gerade die gleiche war in Frankreich und in Polen, wo man Hunderte von Oradours zählen kann. Indem sie sich im September 1939 mit dem sog. Sitzkrieg begnügten, entschieden sich Frankreich und Großbritannien erneut für die Unehre und bekamen trotzdem den richtigen Krieg ab Mai 1940 zu spüren, als es keine Ostfront mehr gab und Nazi-Deutschland sich auf die Versorgung in Rohstoffen durch Sowjetrussland stützen konnte.

Was Polen anbelangt, so wurde es von den Westalliierten in Jalta erneut verraten. Eine im außerhalb Polens wenig bekannte Tatsache ist, dass einige tausend polnische Partisanen den bewaffneten Kampf gegen die kommunistische Diktatur und gegen den sowjetischen Besatzer bis ins Jahr 1956 fortsetzten. Es ist erst 1990 nach dem Ende des Kommunismus, sprich nach dem Ende der Volksrepublik Polen als Satellit der Sowjetunion, dass der letzte polnische Exilpräsident in London nach Warschau kam, um dem ersten

demokratisch gewählten Präsidenten der III. Republik Lech Wałęsa die Machtinsignien der im September 1939 gefallenen II. Republik zu übergeben.

 

Deutsch-sowjetischer Pakt von 1939 und russisch-sowjetische Historiographie von 2019

Am 1. September 2019, anlässlich der Gedenkfeier des 80. Jahrestags des deutschen Einmarschs in Polen, der den II. Weltkrieg einleitete, tat Deutschland bemerkenswert Abbitte. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel war anwesend, obwohl sie nicht vorgesehen hatte zu kommen, da ihr Land offiziell vom

Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier vertreten war. Letzterer begab sich am Morgen nach Wieluń, einer Kleinstadt in der Nähe von Tschenstochau (Częstochowa), die am 1. September 1939 von der Luftwaffe ab 5 Ihr früh noch vor der Kriegserklärung bombardiert worden war, um auf Polnisch um Vergebung zu bitten. Anschließend hielt er in Warschau eine Rede, die von der polnischen Seite sehr geschätzt wurde, da er ohne Vorbehalt die deutsche Verantwortung bzw. das Ausmaß der ab September 1939 gegen die polnische

Zivilbevölkerung begangenen Verbrechen anerkannte (ca. sechs Millionen Tote für 35 Millionen Einwohner, darunter über eine Million von den Sowjets und beinahe fünf Millionen, darunter drei Millionen Juden, von den Deutschen ermordetwurden).

Russland wurde zu dieser Gedenkfeier nicht eingeladen. Offiziell war dies wegen dessen imperialistischer bzw. so empfundener Politik in Georgien bzw. in der Ukraine aber zweifelsohne auch weil die sowjetische Historiographie in Putins Russland weiterhin gilt. Die Polen hatten nicht vergessen, dass anlässlich der Gedenkfeier vor zehn Jahren, der Russe Wladimir Putin, ein ehemaliger KGB-Offizier, den deutsch-sowjetischen Pakt und die Invasion Polens ab dem 17. September 1939 rechtfertigt hatte, indem er die Argumente der sowjetischen Propaganda übernahm, die die II. polnische Republik (1918-1939) für den Krieg verantwortlich machte.

Gleichermaßen meinte der Direktor des Außenaufklärungsdiensts der

Russischen Föderation (Служба внешней разведки Российской Федерации, SWR) Sergei Naryschkin öffentlich am 23. August, dem Jahrestag des Molotow Ribbentrop-Pakts, dass die UdSSR keine andere Wahl gehabt habe, als diesen Pakt zu unterzeichnen, der „der Sowjetunion ein paar Jahre Frieden bescherte und ermöglichte, die Grenze zu Deutschland nach Westen zu verschieben“. Gemäß den vom polnischen Portal wPolityce.pl veröffentlichten Äußerungen habe sich gemäß Naryschkin damals westlich der Sowjetunion „eine Reihe

von Staaten gebildet, die auf den Ruinen des russischen Zarenreichs geboren worden waren“, von denen der größte Polen sei, das gemäß dem SWR-Direktor 1921 „von Russland die Gebiete des westlichen Weissrusslands bzw. der westlichen Ukraine erobert“ habe. Immer gemäß Naryschkin „blieben die Polen in ihren Illusionen verhaftet und lehnten aus Prinzip den Durchmarsch der sowjetischen Armeen ab“. Das Bündnis mit Nazi-Deutschland und die Invasion des Ostens Polens, das sich schon gegen die deutsche Invasion verteidigen

musste, machte, dass „die Rote Armee in fünf Tagen an die alte Grenze des russischen Zarenreichs angekommen sind,“ während „nur 18 Jahre seit der Übergabe dieser altrussischen Gebiete an Polen vergangen waren“. Für den Russen Naryschkin wurden die Soldaten der Roten Armee „vielerorts als Befreier empfangen worden“.

Um es klarzustellen: die von Naryschkin erwähnten „altrussischen“ Gebiete waren von Polen am Ende des 18. Jahrhunderts bei den Teilungen der ehemaligen Königlichen Republik Polen-Litauen durch Preußen, Österreich und Russland getrennt worden.

Von Polen aus gesehen gibt es also wohl eine Kontinuität des russischen Diskurses zwischen dem Zarenreich, Sowjetrussland und dem heutigen Russland, umso mehr als die Stimme Naryschkins keineswegs isoliert ist, da es sich um die Vision der Geschichte handelt, die in Russland weiterhin gilt. Unter diesen Bedingungen ist es nicht verwunderlich, dass Warschau es versucht, die Anwesenheit von US-Truppen auf seinem Gebiet abzusichern, und dass der polnische Präsident Andrzej Duda in seiner Rede zum 1. September vor den expansionistischen Bestrebungen des zeitgenössischen Russlands gewarnt hat.

 

(1) Quelle: Sprawiedliwi. Jak Polacy ratowali Żydów przed Zagładą (Die Gerechten. Wie Polen Juden vor dem Holocaust gerettet haben), von Grzegorz Górny, Warschau 2013 (ISBN978-83-6298-160-1)

(2) Quelle: God’s Playground: a History of Poland (Gottes Spielplatz: Eine Geschichte Polens), vom Historiker Norman Davies.