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Rumänien : der Fall Anna Horváth und was er uns verrät

Lesezeit: 7 Minuten

Von Modeste Schwartz.

Rumänien – Anfangs der 2000er Jahre glich die sozialpolitische Lage Rumäniens an der Oberfläche so ziemlich dem Klischee, das die westliche Mainstreampresse verbreitet, wenn es um „Osteuropa“ geht. Das Land – bis auf ein kurzes Zwischenspiel „von rechts“ am Ende der 1990er Jahre – wurde von ehemaligen auf den Listen der Sozialdemokratischen Partei (PSD) gewählten Apparatschiks regiert, und diese Partei, obwohl sie dies zurückwies, vertrat damals in der Tat das politische Erbe der früheren Einheitspartei. Die Korruption war allgegenwärtig und vor allem sehr sichtbar, denn sie bestand auch aus einem breiten Rand der „kleinen Korruption“ (die sich auf geringere Beträge bezog, u.a. auf Gemeindeebene); obwohl „sozialdemokratisch“ und Erbe einer formell marxistischen Struktur, bewahrten die Machthaber teilweise das Erbe des großrumänischen Staatschauvinismus, der für Nicolae Ceaușescus Rumänien bezeichnend gewesen war, sodaß die ungarische Minderheit (die größte ethnische Minderheit des Landes – und der EU), politisch durch deren ethnische Partei RMDSZ vertreten, in der Defensive blieb und versuchte höchstens ihre Verhandlungsposition zu verbessern, indem sie in der Mitte die Rolle des Mehrheitsbeschaffers innerhalb des Parlaments übernahm. Indem sie spontan diesen Staatschauvinismus (der in Wirklichkeit von einer langen Tradition aus der Vorkriegszeit herstammt) mit der kommunistischen Zeit assoziierte, zeigte die ungarischsprachige Bevölkerung eine vorsichtige, doch echte Sympathie für die „rechte“ Opposition, die sich (in ihrem Diskurs) mit „europäischen Werten“ schmückte und sich manchmal zu einigen schüchternen Gesten der Annäherung ihr gegenüber riskierte. Die euro-atlantische Integration (Beitritt Rumäniens zu NATO und EU), die kurz darauf stattfand, sollte alle Probleme Rumäniens im allgemeinen beenden, und besonders die seiner unzufriedenen Minderheiten. 

Dann verschlechterte sich die Lage. Als er 2004 an die Macht kam, ernannte der orange Kandidat Traian Băsescu Monica Macovei zur Justizministerin, eine ehemalige Stipendiatin der Central University von George Soros. Schon Staatsanwältin unter Ceaușescu richtete diese umgeschulte eiserne Dame ein System ein, das den rumänischen Staat durchaus wirksamer abriegelt als die Verfassungsreformen, die man nach 2010 dem Fidesz Viktor Orbáns vorgeworfen hat – allerdings in einer wohl weniger demokratischen Weise! Unter dem Lack des Pluralismus und des Parlamentarismus wird Rumänien wieder zu dem, was es zwischen 1948 und 1989 war: ein „Sicherheitsstaat“, sprich ein Staat, der von den unterschiedlichen Sicherheitsdiensten völlig beherrscht wird, von den Erben der Securitate Ceaușescus (allen voran der Rumänische Informationsdienst – Serviciul român de informații, SRI). Seitdem haben Budget und Personalbestand dieser Dienste (die in absoluten Zahlen diejenigen von Ländern wie Frankreich übertreffen!) niemals aufgehört zu wachsen, während ihre riesige unsichtbare Macht (die auf ihre Involvierung in die Wirtschaft beruht) per se nicht gemessen werden kann. 

Als Feigenblatt für diese Übernahme dient eine Nationale Antikorruptionsdirektion (Direcția Națională Anticorupție, DNA), die die klassischen Mechanismen der Justiz durch Prozeduren kurzschließt, die sich von der „Terrorbekämpfung“ der westlichen Länder inspiriert, und dies in einem Land mit sehr wenig Gewalt bzw. wo es Terrorismus ganz einfach nicht gibt! Seitdem können „die Dienste“ (wie man sie hier nennt) irgendjemand ohne Anordnung abhören, haben Zugriff auf alle Polizei- und Notariatsakten usw., während die DNA die Untersuchungshaft so leichtfertig praktiziert, dass sie sogar im Westen schon dafür hart kritisiert wird. In der Praxis kann man ohne Übertreibung sagen, dass der Habeas Corpus, nach einer kurzen Zwischenzeit von 15 Jahren, wo er nach 1990 angewandt wurde, in Rumänien wieder abgeschafft worden ist, fast genauso wie vor 1989. 

Bisher hat diese eigenartige Tatsache kaum Aufmerksamkeit außerhalb des Landes erregt. Einerseits weil unter der Präsidentschaft Traian Băsescus mehrere der seltenen westlichen Presseorganen, die sich für die ost- und mitteleuropäischen Länder interessieren, auf diskrete Weise durch das Netzwerk der Rumänischen Kulturinstitute finanziert und „orientiert“ wurden, die in der besten Tradition von vor 1989 wieder zu Sammelstellen für politische Agenten im Dienste des Regimes geworden sind. Andererseits weil, bis in den letzten Monaten, das „Binom“ (um den Terminus zu benutzen, den die rumänischen Dissidenten für das Gespann „Dienste“ + DNA benutzen) diesen Ermessensspielraum ziemlich maßvoll und klug benutzt hatte. Da Verhandlung und Erpressung in Rumänien seit langem gut geölte Mechanismen sind, konnte das Binom in den meisten Fällen mit dem Stillschweigen seiner Opfer rechnen, die zwar ins Visier genommen, aber selten getroffen wurden, da von zehntausenden Anklagen nur sehr wenige zu unbedingten Verurteilungen führen (1138 im Jahr 2014, 713 im Jahr 2017 – während die Zahl der Anklagen nie aufhörte zu steigen!). Es gibt eine weitere Methode der gerichtlichen Erpressung, die schon vor der Gründung der DNA wohl bekannt war: die Verdächtigen – wenn es sich um notorisch korrupte Leute handelt – werden nur wegen der zweitrangigsten Aspekte ihrer kriminellen Aktivität angeklagt, was ermöglicht, sie ohne Verurteilung im Visier zu behalten, wenn sie „kooperationsbereit“ sind, und sie widrigenfalls zu leichten Strafen verurteilen zu lassen (um ihnen „eine letzte Chance zu lassen, vernünftig zu werden“). 

Da die Wahlkämpfe in diesem sehr armen Land nicht billiger sind als sonstwo in Europa, ist es wohl selbstverständlich, außer man hat – wie die Abgeordneten der jungen Union für die Rettung Rumäniens (Uniunea Salvați Români, USR) – unmittelbar mit den Geldern der „westlichen NGOs“ rechnen können, dass jeder rumänische Abgeordnete, der sich wählen lassen konnte, per se der Willkür des Binoms ausgeliefert ist. Unter diesen Bedingungen erscheint das, was die westliche Presse mit einer falschen Naivität die „rumänische politische Debatte“ nennt, in Wirklichkeit erst dann an die Oberfläche der gewählten Institutionen, wenn es innerhalb der Dienste zu internen Unstimmigkeiten kommt. Es ist u.a. das, was seit der Wahl Donald Trumps geschieht: immer mehr Rumänen werden von der Visegrád-Alternative angetan, in der Gesellschaft im allgemeinen (die dem kosmopolitischen Einwanderungsprojekt Brüssels mit einer sehr großen Mehrheit feindlich gegenübersteht), in einem Teil der „Dienste“ und vor allem innerhalb der derzeit herrschenden Fraktion der regierenden Sozialdemokratischen Partei (PSD), die von Liviu Dragnea geführt wird, der in einem möglichen Bündnis zwischen Rumänien und Visegrád eine innenpolitische Möglichkeit sieht, die Partei unabhängiger vom Binom zu machen, und geopolitisch eine Gelegenheit, das Joch der deutschen wirtschaftspolitischen Unterwerfung zu leichter zu machen. 

Daher kommt die „Antikorruptionshysterie“ der rumänischen atlantistischen Kreise (angefangen von der „Soros-Galaxie“), die weit weniger einem Anstieg der Korruption entspricht (die in Wirklichkeit zurückgegangen ist, vorwiegend an den unteren Ebenen der Macht) als der panischen Angst, dass das Binom die Kontrolle über die Regierungspolitik verlieren könnte. 

Hat diese Panik manche Befehlsempfänger des Binoms genervt, die schließlich die „Nulltoleranz-Ideologie“ ernst nehmen, mit der sie seit Jahren die Medien überhäufen (ohne diese für sich anzuwenden)? Es ist das, was die neuliche Verurteilung einer ehemaligen stellvertretenden Bürgermeisterin, Mutter zweier Kinder, zu zwei Jahren und acht Monaten Gefängnis ohne Bewährung denken läßt, weil sie 60 kostenlose (!) Eintrittskarten für ein Festival für die Freiwilligen ihrer Mannschaft von einem Geschäftsmann angenommen hat, bloß um eine (durchaus legale) Genehmigungsprozedur für ein Immobilienprojekt zu beschleunigen (nicht zu beeinflussen). Schließlich wurde am 5. Januar 2017 die Vize-Rektorin einer Universität (Doina Azoicăi) zu drei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt, weil sie ein Kaffeeservice angenommen hatte, während wir vor zwei Monaten über den Fall einer Kardiologin (Cecilia Chirvăsuţă) berichteten, die zu vier Jahren ohne Bewährung wegen eines Schmiergelds von weniger als € 300 verurteilt wurde. Ja und nein. Frau Azoicăi und Frau Chirvăsuţă, die typisch rumänische Namen tragen (moldauische genau gesagt), wurden vielleicht zu den Opfern des verspäteten Eifers einer Administration, die wegen des wachsenden internationalen Echos über das unglaubliche und feststellbare Missverhältnis zwischen der Anzahl der Anklagen und derjenigen der Verurteilungen ohne Bewährung (die sich aus den hier oben vorgetragenen Gründen leicht erklären läßt) etwas in Panik geraten ist.

Aber die frühere stellvertretende Bürgermeisterin, die den dritten Fall in dieser ehrenrührigen Liste ausmacht, heißt Anna Horváth (typisch ungarische Vor- und Nachnamen) und die Stadt, wo sie stellvertretende Bürgermeisterin auf den RMDSZ-Listen war, ist Klausenburg (Kolozsvár/Cluj). Daraufhin ruft diese Verurteilung eine Welle der Entrüstung in den Reihen dieser Minderheit hervor, die sich als Ziel einer Einschüchterungskampagne sieht. Zu Unrecht? Angesichts der hier oben aufgelisteten Fälle könnte man es denken.

In Wirklichkeit ist ihr Gefühl durchaus gerechtfertigt: seit über einem Jahr zielt die äußerst selektive „Justiz“ des Binoms immer öfter auf die Mitglieder der RMDSZ ab, die man derzeit als das zweite bevorzugte Ziel nach der PSD von Liviu Dragnea bezeichnen kann. Gefangen in ihren historischen Reflexen neigen die Meinungsbilder besagter Minderheit dazu, darin eine ungarnfeindliche Kontinuität des rumänischen Staatsapparats zu sehen, während sie etwas rasch die Streicheleinheiten vergessen, die sie vor knapp zehn Jahren von politischen Vertretern besagten Binoms erhielten (wie Traian Băsescu, der inzwischen zum ausgezeichneten ungarnfeindlichen Rhetor mutiert ist). Ehrlich gesagt stellt dieses Unterdrucksetzen der RMDSZ in der Tat eine neuliche Wende dar, deren Gründe nichts Geheimnisvolles haben. Die Anführer der Minderheit bräuchten bloß die binom-nahe Presse etwas zu verfolgen (wie die Station Realitatea TV) um festzustellen, dass die RMDSZ seit einigen Monaten systematisch wie ein „Instrument Viktor Orbáns“ dargestellt wird, der „mit grünem Licht aus Russland“ kurz davor stünde „Siebenbürgen zurückzuholen“. Diese in Fernsehstudios in Anwesenheit von rumänischen akademischen Größen bzw. vom Westen verherrlichten Universitätsrektoren ausgesprochenen hetzerischen Albernheiten werden zur besten Sendezeit ausgestrahlt. Die politischen Fakten, die diese Kriegspropaganda verstärkt und verfälscht, sind die Tatsache einer wachsenden Annäherung einerseits zwischen der RMDSZ (die sich mit der Behauptung des jungen Hunor Kelemen an deren Spitze verwandelt hat) und dem Fidesz Viktor Orbáns, und andererseits zwischen dem Fidesz und der herrschenden Fraktion (Liviu Dragnea) der in Bukarest regierenden PSD.

Der „Fall Anna Horváth“ erklärt sich also einerseits durch den Willen des Binoms, der RMDSZ zu zeigen, dass es so gut wie zu allem bereit ist, um diese gleichzuschalten, aber auch durch sein ziemlich sichtbares Vorhaben, die ethnischen Spannungen in Siebenbürgen anzuheizen, in der Hoffnung, dass die

durch ihre chauvinistische Vergangenheit eingeholte PSD schließlich aus demagogischen wahltaktischen Gründen gezwungen werde, auf die ungarische Allianz, sprich auf das Rumänien-Visegrád-Integrationsprojekt – und, infolgedessen auf jeden Unabhängigkeitswillen gegenüber… dem Binom zu verzichten. Diese Interpretation wird durch weitere neuliche rumänische Gerichtsentscheidungen gestützt, wie diejenige des Verfassungsgerichts (vom 19. März), die den Kompromiss sabotiert, den Orbán und Dragnea in Bezug auf die Affäre vom katholischen Gymnasium inMarosvásárhely (Târgu-Mureș) gefunden hatten.

Schließlich verdient ein (im übrigen bezüglich der Integrität der rumänischen Justiz sehr peinliches) Detail der Prozedur all unsere Aufmerksamkeit: die Verurteilung von Anna Horváth wurde ohne Bewährung ausgesprochen, weil letztere nicht akzeptiert hat, ihr zuzustimmen, was ihr sonst erlaubt hätte, die gewöhnliche Bewährung zu genießen. Nicht nur entdeckt man so en passant, daß die rumänische Justiz über „legale“ Mittel der Einschüchterung gegenüber den Verdächtigen verfügt, um sie dazu zu bringen, auf ihr Berufungsrecht zu verzichten, sondern auch und besonders, dass die RMDSZ diesmal durchaus entschieden zu haben scheint, sich das nicht gefallen zu lassen – eine Hypothese, die durch ihre höchst vehemente offizielle Reaktion bestätigt wird: Kampagne durch Videos in den sozialen Netzwerken, Artikel, die den Ausdruck Anna Horváths übernehmen (den wir selber hier oben zitiert haben), wonach Rumänien ein „Sicherheitsstaat“ sei, usw… 

Um diese plötzliche Kampfbereitschaft der RMDSZ zu erklären, kann man freilich die Ungeschicktheit des Binoms erwähnen, das sich im vorliegenden Fall sein Opfer eher schlecht ausgesucht hat: eher jung, in ihrer Gemeinschaft sehr beliebt, Mutter zweier Kinder, ist Anna Horváth wahrscheinlich zu jung und politisch nicht wichtig genug um – auch wenn sie es gewollt hätte – in vielen Korruptionsfällen involviert zu sein. Andererseits kann man vermuten, dass die generationsbezogene Erneuerung an der Spitze der RMDSZ dort den Anteil der Funktionäre erhöht hat, auf die das Binom (durch Erpressung) über weniger Druckmittel verfügt als in der früheren Generation (die symbolisch im vergangenen Januar anläßlich der feierlichen Beisetzung Attila Verestóys abgelöst wurde, des szeklerischen „Holzbarons“, der die „alte Garde“ karikaturenhaft verkörperte). Schließlich kann man vernünftigerweise denken, dass die Perspektive eines vermutlichen Wahlsiegs der Fidesz bei den kommenden Wahlen in Ungarn am 8. April die RMDSZ in deren Meinung bestätigen könne, dass sie nicht mehr – wie in den Jahren 1999/2000 – mit dem Rücken an der Wand stehe.

Bleibt den ungarischen urbanen (geistig in ihrer liberalen und antikommunistischen Überempfindlichkeit versteinerten) „Eliten“ Siebenbürgens zu erklären, dass ihre gestrigen Freunde politisch nunmehr zu ihren schlimmsten Feinden geworden sind, und dass der ethnische Frieden durch eine Integration in die Visegrád-Gruppe führt, was wiederum – wie Viktor Orbán dies verstanden hat – eine pragmatische Zusammenarbeit mit der PSD mit sich bringt. Über die sichtbaren Reaktionen in den sozialen Netzwerken zu beurteilen, so fürchte ich, dass die generationsbezogene Erneuerung hier auch nicht wirksamer ist, als die Pädagogie, gegenüber der kulturellen Trägheit einer Minderheit, die daran gewöhnt ist, alles von einem Westen zu erwarten, der heute ein objektiver Verbündeter des institutionellen Chauvinismus des rumänischen Sicherheitsstaats ist.