Von Thibaud Cassel.
Europäische Union – Emmanuel Macron ist der Mann des „Großen Sprungs nach vorne“ der europäischen Integration. Die offenen Vorbehalte der Visegrád-Gruppe werden einfach so vom Tisch gewischt: die Reform betrifft zuerst die Eurozone und wer nicht folgen will, wird „am Rande der Geschichte“ bleiben. Es wäre aber ein solcher Bruch mit dessen Hinterland, dass Deutschland dies nicht zulassen kann. Der manichäische Diskurs des französischen Präsidenten könnte sich daher gegen ihn selber wenden.
Die Ansprache des französischen Präsidenten vor dem Europaparlament in Straßburg am 17. April und sein Treffen mit Angela Merkel in Berlin am 19. April geben uns Anlaß zum Nachdenken.
I. Spaltung rund um das Rheingold
1. Frankreich als flehende Kaiserin
Deutschland ist heute mehr denn je der Mittelpunkt der Europäischen Union. Statt Partner zu sein sind Deutschland und Frankreich (wegen der Währungsunion) bloß verbunden: zum Vorteil des ersten und zum Nachteil des anderen. Widersprüchlicherweise zeigt sich der französische Präsident genauso richtungsweisend wie er machtlos ist.
Der französische Wille, die Währungsunion zu verstärken und einen Europäischen Währungsfonds (EWF) einzurichten, soll zweien Zielen gerecht werden. Das erste ist es, die Zahlungsfähigkeit der Eurozone im allgemeinen und Frankreichs im besonderen gegenüber der Vitalität der deutschen Wirtschaft abzusichern: „nach der Krise haben wir Instrumente eingeführt um die Verantwortung zu verstärken (…) aber wir brauchen auch Solidarität innerhalb der Währungsunion“, so der französische Präsident am 19. April anläßlich seines gemeinsamen Auftritts mit der Kanzlerin. Das zweite Ziel ist etwas politischerer Natur: es besteht darin, die überstaatliche, technokratische und finanzielle Kontrolle über die Mitgliedsländer der Eurozone hervorzuheben, um die Vereinigten Staaten von Europa einzurichten, als deren Gründungsvater Emmanuel Macron sich schon vorstellt.
2. Die deutsche Vorsicht hat zwei Gründe
Die deutschen Interessen unterscheiden sich von den französischen. Die Einheitswährung verstärkt Deutschland strukturell in seiner Rolle als Industriebecken der Eurozone. Die deutschen Überschüsse stammen aus den Defiziten seiner Partner. Aber der Erfolgsrausch hindert die deutschen Industriellen daran, anzuerkennen, dass diese Hegemonie das europäische Gleichgewicht unterminiert und den Ast absägt, auf dem sie sitzen.
Demgegenüber ist es die Vorsicht, die die Deutschen davon abhält, sich auf den Abhang des post-nationalen Europas hinauszuwagen, denn dies würde das Land genauso wie jedes andere europäische Land aus der Geschichte hinausführen. Die deutsche Wiedervereinigung ist nicht mal dreißig Jahre alt und die Vitalität der Länderautonomie nährt weiterhin das Nationalgefühl. Ethnomasochismus ist zwar u.a. zu einem deutschen Markenzeichen geworden, doch ist diese Macke auch Scheinheiligkeit und kann ganz konkrete Interessen verschleiern.
Zwischen merkantiler Selbstsucht und politischer Vorsicht ist die deutsche Regierung nicht in der Lage, den Forderungen Emmanuel Macrons nachzugeben.
II. Warum Deutschland sich der „französischen Ideologie“ nicht anschließen kann
1. Ein deutscher Janus mitten in Europa
Aber diese Frage ist auch geopolitisch bzw. betrifft dann Mitteleuropa. Deutschland ähnelt heute einem Gott mit zwei Gesichtern: das eine wendet sich nach dem Westen und das andere nach dem Osten.
Das Land hat aus den vierzig Jahren der westdeutschen Bonner Bundesrepublik einen starken westlichen Tropismus behalten. Ein obligater Atlantismus, um sich der Gemeinschaft der Nationen anschließen zu dürfen, bzw. die deutsch-französische Versöhnung als Basis der europäischen Integration sind konkrete und nachhaltige Elemente, die die deutsche Politik strukturieren.
Aber mit Bayern, Österreich und der ehemaligen DDR ist es beinahe die Hälfte der deutschsprachigen Welt, die schon auf die konservative Seite der EU neigt. Der Donaubecken und die große europäische Ebene fassen 100 Millionen Europäer aus den in der EU integrierten ost- und mitteleuropäischen Ländern, und darüber hinaus erstrecken sich die von der Neuen Seidenstraße versprochenen weiten Horizonte des 21. Jahrhunderts.
Schon ab dem 1992 geschlossenen Vertrag von Maastricht erlaubten Sondermaßnahmen die EU-Unternehmen, in Mitteleuropa ohne Einfuhrgebühren produzieren zu lassen. Die deutsche Wirtschaftspolitik in Mitteleuropa seit dreißig Jahren kann als ein riesiger Schwung beschrieben werden, der den seit dem Mittelalter traditionellen und von der UdSSR 1945-1990 bloß in den Schatten gestellten deutschen Einfluß in die Region zurückgebracht hat.
2. Angela Merkel unter innenpolitischem Druck
Die populistische Welle, die über Europa zieht, erweitert die Reichweite des konservativen Flügels der CDU-CSU Angela Merkels. Denn es ist wohl aus der Partei der Kanzlerin, dass die größten Vorbehalte gegen das französische Vorhaben kommen. Die mitteleuropäische Nachbarschaft übt freilich seinen Einfluß: dieser deutsche rechte Flügel, der die AfD im Nacken spürt, stützt sich durchwegs auf den seit der Bildung der ÖVP/FPÖ-Regierung spürbaren österreichischen Rechtsruck und auf den hemmungslosen Diskurs der Nachbarn aus der Visegrád-Gruppe.
Aber auch die SPD kommt dabei nicht zu kurz. Ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz war freilich der deklarierte Prophet der EU-Föderalisierung, doch genauso deswegen mußte er die Politszene so erbärmlich verlassen, nachdem er den Posten des Außenministers nicht erhielt, den er begehrt hatte. Somit stellt die SPD auch auf deutscher Seite keinen Motor für die föderalistischen Anstrengungen Emmanuel Macrons dar.
III. Frankreich in der Stunde der Entscheidung
1. Jedes Zugeständnis ablehnen
Aufgrund des oben Gesagten versteht man, warum das Berliner Treffen zu keiner öffentlichen Ankündigung geführt hat, sofern der Fahrplan für die EU-Reform für den kommenden Juni versprochen wurde. Allerdings liegt das französische Projekt seit September 2017 auf dem Tisch… Daher muß man sich auf französischer Seite mit dramatischen Gesten begnügen. Emmanuel Macron erwähnte „die Dringlichkeit der Lage“ und den „historischen Moment“, in dem sich Europa befindet, in Anwesenheit einer emotionslosen Kanzlerin. Vielleicht dachte sie dabei an den Spitznamen, mit dem Viktor Orbán den französischen Staatspräsidenten bei dessen erstem Europäischen Rat getauft hatte: der neue Bub.
Kommen wir aber auf die Debatte über die Zukunft der EU zurück, die auf der Plenarsitzung des Europaparlaments am Dienstag, den 17. April stattfand. Die Ansprachen der beiden Hauptredner an diesem Vormittag haben Emmanuel Macron gleichermaßen widersprochen.
1° Der erste war niemand anderer als Jean-Claude Juncker, der Präsident der Kommission. Er versicherte, dass Europa sich nicht auf Frankreich und Deutschland reduzieren würde, und dass man sich bemühen müsse, Lösungen mit allen 27 Mitgliedsstaaten zu finden.
2° Der zweite war der Präsident der EVP-Fraktion im Europaparlament, der Deutsche Manfred Weber. Er warf Emmanuel Macron dessen Manichäismus zwischen guten und schlechten Europäern vor, und versicherte, dass jede in der EU demokratisch gewählte Regierung gleichermaßen würdig und legitim sei.
Diese Mäßigung kontrastiert mit dem für die französische Linke typischen polemischen Geist, der in der Opposition eine zu zerstörende Figur des Bösen sieht. Deutschland will sich nicht von dessen Hinterland abwenden, um sich der kartesischen Strenge irgendeiner „französischen Ideologie“ zu unterwerfen.
2. Einen Paradigmenwechsel zulassen
Das deutsch-französische Kondominium über Europa mit einer deutlich liberalen und einwanderungsfreundlichen Software scheint die einzige Achse der seit einem Jahr von der französischen Präsidentschaft entwickelten europäischen Politik gewesen zu sein.
Emmanuel Macron hat schließlich doch Viktor Orbán zu dessen Wahlsieg gratuliert, und zwar überraschenderweise, wenn man sich die von ihm bei dem Fernsehinterview vom 15. April angenommene maßlose Rhetorik anhört. Dieses positive Vorgehen erlaubt es, einen willkommenen aggiornamento der europäischen Politik Emmanuel Macrons in Betracht zu ziehen. Bisher stellten dessen unglückliche Worte über Polen und die offene gegen die Visegrád-Gruppe getriebene Spaltungspolitik eine magere Bilanz bezüglich Mitteleuropa dar.
Die andere von der europäischen Politik Frankreichs noch ignorierte Region scheint Lateineuropa und insbesondere Italien zu sein. Die geographische und sprachliche Nähe aber vor allem die Interessengemeinschaft gegenüber der deutschen Vorherrschaft machen eine solche zwischenstaatliche Zusammenarbeit unabdingbar.
Diese regionale Verständigung im Rahmen der EU ist genau das Rezept der Visegrád-Gruppe, und der Ort, wo diese neue europäische Politik Frankreichs ins Leben gerufen werden könnte, liegt in Italien. Dieses Land ist eine Brücke zwischen Frankreich und der Visegrád-Gruppe, zwischen Lateineuropa und den ost- und mitteleuropäischen Ländern, die alle, getrennterweise der deutschen Vorherrschaft unterworfen, gemeinsam ein neues europäisches Gleichgewicht verhandeln können.
Doch wird diese Priorisierung im Frankreich Emmanuel Macrons vorkommen können?
Fazit: das ausgewogene Tandem des Jahres 1990 – Frankreich und Deutschland – steht heute in der Stunde der europäischen Entscheidung, und zwar mit einem völlig anderen Kräfteverhältnis. Seit langem das Stiefkind Europas befindet sich Mitteleuropa heute in einer Phase strukturellen und dauerhaften Aufschwungs. Desgleichen kann über Frankreich nicht gesagt werden.
Wir haben es analysiert, Deutschland wird sich von dessen östlicher so vielversprechender Nachbarschaft nicht abwenden, so sehr diese auch manchmal aufsäßig sei. Frankreich, das sich einbildet, Europa allein reformieren zu können, könnte eben bei einer kontinentaleren und weniger ideologischen Umorientierung des Kontinents den Kürzeren ziehen. Die ideologische Kompatibilität ist zwar noch stark zwischen Deutschland und Frankreich, aber ob sie genügen wird, um eine seit dem Fall der Berliner Mauer laufende historische Neugewichtung einzudämmen?
Niemand weiß es, doch Indizien gibt es: als Versammlungsort für den Gipfel zur Wiederbelebung des europäischen Einigungsprozesses nach dem Brexit hat der Europäische Rat nicht die Charente von Jean Monnet sondern eine 2500 km entfernte Stadt in Siebenbürgen: Hermannstadt (Sibiu) gewählt, deren deutscher Name uns in die langen Jahrhunderte des Mittelalters zurückversetzt, wo der deutsche Einfluß sich in diesen Gegenden entfaltete…