Von Olivier Bault.
Polen – Vierzig Tage Besetzung des Sejm durch Behinderte und ihre Angehörigen
Am vergangenen 27. Mai kam eine vierzigtägige Besetzung der Gänge des Sejm (das polnische Parlament) durch erwachsene Behinderte und deren Angehörige zu Ende, die ein Protestkomitee gegründet hatten. Anderthalb Wochen später, am 6. Juni, versuchte die liberale Opposition vergeblich ein Mißtrauensvotum gegen beide Minister der Regierung Morawiecki durchzusetzen, die unmittelbar durch diese Protestbewegung betroffen waren: Familien-, Arbeits- und Sozialministerin Elżbieta Rafalska bzw. Vize-Ministerpräsidentin Beata Szydło, die dem Sozialkomitee des Ministerrats vorsteht. Es ist eine Abgeordnete der liberal-libertären Partei Nowoczesna („Modern“), die den Protestierenden geholfen hatte, in das Sejmgebäude einzudringen, um von der Regierungspartei eine Erhöhung der Beihilfen zugunsten der Behinderten zu verlangen. Zwei Forderungen wurden erhoben: dass die soziale Pension zugunsten der Behinderten mit der Mindestpension wegen Arbeitsunfähigkeit gleichgesetzt werde (was bedeutete, dass die Grundpension für behinderte Erwachsene von zł 865,03 auf zł 1029,80 erhöht werde, sprich auf ca. € 240 pro Monat), und dass ein monatlicher Reha-Zuschlag von zł 500 pro Monat überwiesen werde, sprich den gleichen Betrag, der seit 2016 den Familien für jedes minderjährige Kind ab dem zweiten Kind gewährt wurde.
Während die Regierung und die Parlamentsmehrheit rasch der ersten Forderung nachgegeben haben, lehnten sie es bei der zweiten ab, da dies den Haushalt zu sehr belastet hätte. Allerdings stimmte die Parlamentsmehrheit für neue Hilfen in natura, die als gleichwertig mit diesen geforderten zł 500 pro Monat vorgestellt wurden, was anschließend zu einem tauben Dialog zwischen der Regierung und den Protestierenden führte. Die Regierung behauptete, allen Forderungen der Protestierenden nachgegeben zu haben, während die Protestierenden das Gegenteil bis heute beklagen, da sie eigentlich den Zuschlag als Barzahlung verlangt hatten. Am 24. April unterzeichnete also Familienministerin Rafalska ein „Abkommen mit den Behinderten“, sprich mit den Behindertenvereinen aber ohne Beteiligung der Protestierenden vom Sejm, die gerade vor den Fernsehkameras die Vorschläge der Regierung abgewiesen hatten. Das Beenden der Protestbewegung am 27. Mai und der Abzug der Protestierenden, deren Anwesenheit sehr medienwirksam inszeniert worden war, ist übrigens offiziell bloß eine Suspendierung der Bewegung, wie dies auch vier Jahre zuvor der Fall gewesen war.
Am Anfang der Bewegung am 18. April hatte der Sprecher der Protestierenden in der Tat erklärt, dass sie gerade die Suspendierung ihrer Sejm-Besetzung aus dem Jahre 2014 beendeten, damals unter der Regierung von Donald Tusk, als sie die Erhöhung der Beihilfe für die Eltern erhielten, die gezwungen werden, zu arbeiten aufzuhören, um sich um ihr behindertes Kind zu kümmern. Damals waren die Protestierenden in den Sejm von den Abgeordneten von Solidarna Polska eingeladen worden, einer Partei, die heute der Regierungsmehrheit um die PiS gehört. Ihre Bewegung dauerte dann zwei Wochen und sie waren genauso unzufrieden wiederabgezogen wie heute, auch wenn die damalige PO-PSL-Mehrheit ebenfalls teilweise ihren Forderungen nachgegeben hatte, indem sie die Beihilfe für die Eltern von behinderten Kindern, die gezwungen sind, zu arbeiten aufzuhören, von zł 820 pro Monat (ca. € 190) auf zł 1000 erhöht hatte, bzw. eine zusätzliche Erhöhung von zł 300 auf zwei Jahre beschlossen hatte.
Es ist kein Zufall, wenn die Eltern von Behinderten einen Zuschlag verlangen, der mit dem Betrag der neuen Familienbeihilfen gleich ist, die die PiS eingeführt hat bzw. wenn die Protestbewegung im Sejm-Gebäude gerade vier Tage später begonnen hat, nachdem die in einem Konvent versammelte PiS lautstark neue Maßnahmen für die Polen angekündigt hatte: Senkung der Körperschaftssteuer von 15% auf 9% für die KMUs, Senkung der Sozialversicherungsbeiträge für Mikrounternehmen, Schulanfangsprämie für die Familien, Mindestpension für die Frauen, die mindestens vier Kinder geboren und keine Beiträge für die Pensionsversicherung zahlen konnten, Prämien für die Frauen, die weniger als 24 Monate nach der Geburt eines Kindes ein weiteres Kind gebären… Ministerpräsident Morawiecki, dessen Diskurs mehr auf die Wirtschaft fokussiert ist als derjenige seiner Vorgängerin Beata Szydło, meidet keine Gelegenheit, um die (echten) guten Ergebnisse seiner Regierung in den Bereichen Haushaltsdefizit bzw. Wirtschaftswachstum zu loben, und das gleiche Staatsfernsehen, das früher die Erfolge der PO-PSL-Regierungen lobte und bis 2015 auf die konservative Opposition schlug, lobt inzwischen jeden Abend um 19 Uhr die Erfolge der PiS-Regierung und schlägt auf die liberale Opposition. Und zwangsweise also, da das Niveau der sozialen Beihilfen trotz der unbestreitbaren Anstrengungen der PiS in dem Bereich ziemlich bescheiden bleiben, und eben infolge ihrer Anstrengungen und der Erfolgspropaganda, die die soziale Politik der Regierung begleitet, werden manche Gruppen ungeduldig.
Die Protestbewegung der Verwandten von Behinderten bekam übrigens die eher unerwartete Unterstützung der feministischen Organisationen, die hinter dem „Schwarzen Protest“ gegen die Volksinitiative standen, die eugenische Abtreibungen verbieten wolle. Die liberale Abgeordnete, die die Protestierenden im vergangenen April in das Sejm-Gebäude einließ, erklärte selber ihre Motivation wie folgt: „ab dem Moment, wo die PiS die Polinnen zwingt, die Kinder zu gebären und denjenigen nicht hilft, die schon auf der Welt sind und die darum kämpfen, um zu leben, bin ich nicht überrascht, dass die Verwandten entschlossen sind“. Es handelte sich dabei um eine deutliche Andeutung auf die Volksinitiative „Stoppt Abtreibungen“, die in erster Lesung im Januar angenommen wurde, aber nun im Sejm steckt, da die PiS in Wahrheit nicht deren Urheberin ist. Diese Unterstützung für die Behinderten seitens von Organisationen und Aktivisten, die eigentlich die Möglichkeit befürworten, diese im Mutterlieb zu töten, wurde nicht von allen goutiert. Allerdings haben sie auch nicht das Monopol der Heuchelei. Jarosław Kaczyński, der Anführer der PiS, zeigte sich 2014 geschockt, dass die PO-PSL-Regierung nicht alle Forderungen der Verwandten von Behinderten annehme; heute im Jahr 2018 ist er es nicht mehr, wenn die PiS-Regierung ähnlich agiert. Die Kehrtwende der Anführer der liberalen Partei Bürgerplattform (PO) war in umgekehrter Richtung genau die gleiche.
Gemäß einer Mitte Mai von der Zeitung Rzeczpospolita veröffentlichten Umfrage würden es 80 % der Polen befürworten, dass den Forderungen der Behinderten und ihrer Verwandten nachgegeben werde, die im Sejm protestiert haben. Mehr als die Hälfte der Polen wären sogar dafür, dass die Regierung derzeit auf die auf dem PiS-Konvent am 14. April angekündigte Schulanfangsprämie verzichte, wenn man dadurch diese Forderungen erfüllen könne.
Übersetzt aus dem Französischen von Visegrád Post.