Von Modeste Schwartz.
Rumänien – Am 4. Juli 2018 verurteilte der Oberste Gerichtshof Rumäniens – als letztes Glied einer langen Kette von Prozessen in Berufung – zwei szeklerischen Aktivisten (István Beke und Zoltán Szőcs) zu einer Gefängnisstrafe von 5 Jahren, was in Ungarn bzw. innerhalb der ungarischen Minderheit in Rumänien Empörung auslöst.
Um den hundertsten Jahrestag der „rumänischen Wiedervereinigung“ (gem. der rumänischen Sichtweise) bzw. der „Annektion Siebenbürgens“ (gem. der ungarischen Sichtweise) scheint das Ereignis beinahe natürlich: die ethnischen Spannungen werden „von allein“ intensiver, der ungarische Irrendentismus wird reaktiviert (u.a. im Szeklerland, wo die Ungarischsprachigen die Mehrheit darstellen) und die rumänischen Behörden reagieren mit einem Reflex strenger Verteidigung.
Und doch ist dies alles falsch, tragischerweise falsch. Sehen wir warum:
1) István Beke und Zoltán Szőcs sind zwar – als Mitglieder der Jugendbewegung der 64 Komitate (HVIM auf Ungarisch – es handelt sich um die 64 Komitate des Großungarns von vor 1918) – Anhänger einer Ideologie, die man gemäß dem rumänischen Recht als verfassungsfeindlich beschreiben kann, aber nicht mehr als die der korsischen oder baskischen Nationalisten in Frankreich. Aber im großen Unterschied zur Situation auf Korsika oder im Nordbaskenland ist die politische (auch ethnisch-politische) Gewalt im äußerst friedlichen Land, das Rumänien ist, seit über 25 Jahren verschwunden und nichts in den letzten Jahren deutete je auf ein etwaiges Wiederaufflammen davon. István Beke und Zoltán Szőcs haben immer wieder die terroristischen Absichten geleugnet, die man ihnen aufgrund von sehr zweifelhaften „Beweisen“ unterstellte, die sehr wahrscheinlich (übrigens eher schlecht) hergestellt wurden. Der Oberste Gerichtshof Rumäniens erkennt es übrigens de facto in seinem Urteil, indem er den Anklagepunkt fallen läßt, der in Richtung terroristische Handlungen deutete („Verletzung der Bestimmungen in Bezug auf Explosivstoffe“), um nur noch denjenigen – ziemlich nebulösen – des „versuchten Angriffs gegen die Gemeinschaft“ in Betracht zu ziehen, der sich eher auf den Diskurs der Angeklagten als auf erwiesene oder potentielle Handlungen zu beziehen scheint. Mit anderen Worten anerkennt der Oberste Gerichtshof stillschweigend, dass Beke und Szőcs politische Gefangene sind – was die Haltung der rumänischen Polizei ihnen gegenüber im Laufe der letzten 18 Monate übrigens bestätigt, die man zumindest als lasch bezeichnen sollte, wenn man (trotz der Offensichtlichkeit) vermuten möchte, dass irgendjemand in Bukarest an eine „Szeklergefahr“ glaube: nach 11 Monaten Untersuchungshaft (von Dezember 2015 bis November 2016) wurden die zwei „Terroristen“ nicht nur 18 Monate lang auf freien Fuß gesetzt, sondern erfahren wir aus dem Umkreis der Angeklagten, dass es sogar Zoltán Szőcs erlaubt wurde, das Staatsgebiet zu verlassen und den Sommerurlaub mit dessen Frau in Kroatien zu verbringen. Es ist doch wohl selbstverständlich, dass keiner der Richter, die das Urteil vom 4. Juli unterzeichnet haben, aufrichtig daran glaubt, dass Beke und Szőcs irgendeine Gefahr für die Gesellschaft darstellen würden (und wenn es der Fall wäre, kann man sich übrigens fragen, inwiefern 5 Jahre – sprich vier Jahre und ein Monat mehr nach Abzug der schon abgesessenen 11 Monate – Gefängnis für diese ziemlich jungen Menschen genügen würden, um diese Gefahr zu beseitigen…).
2) Unter diesen Bedingungen denke ich, dass man durchaus objektiv behaupten kann, dass das Urteil des 4. Juli kontraproduktiv ist, was seine eigens dargestellten Motive anbelangt. Die HVIM ist innerhalb der ungarischsprachigen Bevölkerung Rumäniens eine äußerst winzige Splittergruppe und jeder Polizist, der in dieser Welt die Aufgabe gehabt hat, politischen Aktivismus zu bekämpfen hatte, würde sie lieber damit bekämpfen, indem man sie lächerlich mache bzw. sie politisch isoliere und sich dabei auf die Partei der ungarischen Minderheit, der äußerst mehrheitlichen und legalistischen RMDSZ/UDMR stützen würde, die seit über einem Jahr mit dem in Ungarn regierenden Fidesz verbunden ist, der wiederum gute Beziehungen mit der in Bukarest regierenden Koalition pflegt. Man muss sich also festlegen: entweder sind die rumänischen Richter blöd (was mir unwahrscheinlich erscheint) oder sind die tatsächlichen Motive ihrer Urteile nicht diejenigen, die sie erwähnen – sondern eben im Gegenteil der Wille, die Spannungen unter den Völkern in Siebenbürgen anzufeuern, was heißen soll, dass besagte Richter sich des Hochverrats gegenüber den legitimen Interessen des rumänischen Staats schuldig gemacht haben.
3) Die Ungarn (nicht nur in Ungarn, was wenig überraschend ist – aber auch in Rumänien!) neigen dazu, den rumänischen Staat und dessen (ethnisch) rumänische Politikerklasse (außer RMDSZ/UDMR) als einen einzigen Block zu betrachten. Auf den ungarischsprachigen Seiten füllen sich also die sozialen Netzwerke mit Protesten und Beschimpfungen gegen die derzeitige rumänische Regierung. Doch die neuliche Verurteilung – durch eben diesen Obersten Gerichtshof 13 Tage zuvor! – von Liviu Dragnea, dem Anführer der regierenden Koalition, beweist auf blendende Art, inwiefern das rumänische „Justizsystem“ (das vollständig von den „Diensten“ – sprich vom rumänischen Schattenstaat – infiltriert ist) nicht nur jeder Kontrolle durch die Regierung entgeht, sondern sich (auf völlig verfassungsfeindlicher Weise) zu einem Instrument des politischen Kampfes gegen diese Regierung bzw. ihre ungarischen internen (RMDSZ/UDMR) und externen (Fidesz) Verbündeten verwandelt hat.
Statt eines Willens, eine „Szeklergefahr“ zu kontern, die durchaus aus dem Reich der Phantasie stammt, verrät das Urteil des Obersten Gerichtshofs – das zum Instrument eines ständigen Staatsstreichs im Dienste ausländischer Interessen geworden ist – vor allem die Absicht, einen Keil zwischen Bukarest und Budapest bzw. zwischen die (ethnisch) rumänischen Parteien der PSD-ALDE-Koalition und die RMDSZ/UDMR zu treiben.
Wie per Zufall sind – innerhalb der ungarischen Minderheit Rumäniens – die (urbanen/liberalen/europhilen) Kreise, die am schnellsten sind, ein absurdes Amalgam zwischen rumänischem Justizsystem und Regierungskoalition in ihrem (aufgrund der „politischen Farbe“ der Angeklagten übrigens ziemlich heuchlerischen) Protest zu ziehen, gerade diejenigen, die sich zwei Wochen zuvor am lautesten über die Verurteilung Liviu Dragneas freuten und die RMDSZ/UDMR am schärfsten dafür kritisierten, dass sie zugunsten Gesetzesänderungen gestimmt hatte, die die rumänische Justizwillkür etwas zu mindern versuchen. Einer der Meinungsführer dieser Kreise – der ehemalige Senator Péter Eckstein-Kovács – ist sogar als Protest gegen dieses Votum theatralisch aus der RMDSZ/UDMR ausgetreten (wo sich seine Karriere sowieso seit Jahren im Standby-Modus befand). Allerdings – wie die RMDSZ/UDMR inzwischen auf ihrer offiziellen Facebook-Seite daran erinnert – tat dieses Votum nichts Anderes als vorgeschlagene Gesetzesänderungen zu unterstützen, die endlich die rumänische Justizpraxis an… die Empfehlungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anpassen! Man kann sich fragen, wie Eckstein, der selber Anwalt und ein hervorragender Jurist ist, es vollbrachte, so lange die totalitären Aspekte des Rechts seines Landes zu ignorieren – vielleicht wurde das durch die Überarbeitung verursacht, der er 2009 als Berater des Präsidenten Traian Băsescu – „in Kompensation“ für den Senatorenmandat, den er gerade 2008 verloren hatte – ausgesetzt wurde. Auf jeden Fall wartet man immer noch auf den frenetischen Applaus, mit dem er in aller Logik die Inhaftierung der beiden szeklerischen Aktivisten begrüßen sollte.
Trotz der unumstrittenen Aufrichtigkeit (um nicht zu sagen Naivität) vieler dieser empörten Reaktionen, muss man den Tatsachen ins Auge sehen: die ungarischen Liberalen, die die strategische Positionierung der RMDSZ/UDMR beanstanden, sind heute objektive Verbündete dieses rumänischen Schattenstaats, den sie zu bekämpfen glauben (oder behaupten), wenn man szeklerische Aktivisten einkerkert. Als ideologischer Träger jener seltsamen Komplizenschaft hat die Anbetung des Westens lange für die Konvergenz derjenigen gesorgt, die „die Korruption“ (sprich den einheimischen Kapitalismus) und derjenigen, die den „Nationalismus“ (sprich den großrumänischen Chauvinismus) anprangern. Bloß beißt sich nunmehr diese westenhörige Katze in den Schwanz, da – Viktor Orbáns wegen – auf rumänischer Seite die heftigsten Gegner der „Korruption“ inzwischen auch zu den verbissensten Förderern des „Chauvinismus“ geworden sind.
Diese Aktivierung in allen Richtungen der Agenten des rumänischen Schattenstaats (im Rahmen des Justizsystems aber auch innerhalb der ungarischsprachigen „Zivilgesellschaft“) gelegentlich des hundertsten Jahrestags war übrigens vorhersehbar, und, wie wir schon vor einem Jahr (hier und hier) darauf aufmerksam machten, waren sich die beiden starken Männer in Budapest und Bukarest dessen seit Monaten völlig bewußt und hatten öffentlich ihre Absicht kundgetan, etwaige Provokationen kontern zu wollen, die darauf zielen sollten, Zwietracht zwischen ihnen zu säen. Was die Umsetzung dieser löblichen Absichten anbelangt, so zeigt sie leider die ganze Entfernung, die heute die beiden Hauptstädte im Bereich der Seriosität und der Effizienz trennt. Immer hart aber immer taktvoll hat Viktor Orbán gezeigt, dass er Nerven wie Drahtseile hat, indem er an jeder Provokation (wie z.B. gegenüber eben diesem rumänischen Justizsystem in der Affäre um das katholische Gymnasium in Neumarkt (Marosvásárhely/Târgu-Mureș) vorbei dribbelt, ohne je den Faden der Diplomatie reißen zu lassen. Währenddessen ist Liviu Dragnea zu sehr damit beschäftigt, die Zügel der PSD zu halten (deren zu viele Mandatare viel zu empfindlich für die Reize des Schattenstaats bleiben) und versinkt weiter in einer Politik der halben Maßnahmen, der Kehrtwende und der Trägheit, die zwar genügt, um den Schattenstaat zu ärgern, aber unfähig ist, ihn zu entwaffnen; er schaffte es somit sogar, sich einen zugleich gefährlichen und verzweifelten Feind zu schmieden, der nun vor keinem Verfahren mehr Halt macht, nicht einmal vor denen, die den zivilen Frieden und daher das unmittelbarste nationale Interesse gefährden.
Wie Liviu Dragnea gerade vor dem liberal-libertären Flügel seiner Partei zurückgewichen ist (die doch mehrheitlich für die Sache der „traditionellen“ Familie gesonnen ist), indem er auf sein Projekt einer Riesendemonstration zugunsten eines Referendums über die Familienwerte verzichtete (die in letzter Minute zu einem bloßen „Marsch gegen die Mißbräuche der Justiz“ umfirmiert wurde), muss man wohl auch befürchten, dass er – mit Victor Ponta auf der Lauer auf seiner rechten Seite, mal „national-liberal“, mal „nach Macron’schem Vorbild“ – nicht schließlich der „patriotischen“ Erpressung des Schattenstaats erliege, indem er seine ungarische Allianz opfere. In dem Fall würde er auch ipso facto auf seine Ambitionen für die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr bzw. wahrscheinlich auf jede politische Zukunft verzichten.
Fügen wir allerdings zur Entlastung jenes armen Dragnea hinzu, dass die derzeitige Frenesie des rumänischen Schattenstaats wahrscheinlich nicht nur intern verursacht wird. Drei Tage vor dem hier kommentierten Urteil, am 1. Juli, veröffentlichte der Pseudoexpert Dan Dungaciu, Chefpropagandist der „euro-atlantischen“ Kreise der rumänischen Presse, unter dem reißerischen (obwohl ziemlich absurden) Titel „Ein zweites Trianon“ ein Lügengespinst, das darauf abzielte, glauben zu lassen, dass Rumänien – als Bergbaukolonie, die seit bald dreißig Jahren durch die westlichen Konzerne geplündert wird – vor allem das Opfer des wirtschaftlichen Imperialismus… Ungarns wäre. Unter diesem spinnenden Diskurs kann man allerdings sehr leicht die tatsächliche Ursache des epileptischen Anfalls erblicken, der manche der reichsten westlichen Freunde des Herrn Dungaciu befallen zu haben scheint: die Frage der Gasvorkommen im Schwarzen Meer – auf die ich in einem nächsten Artikel zurückkommen werde – liefert wie per Zufall seinen Untertitel zu diesem anthologischen Artikel.
Aus dem Französischen übersetzt von Visegrád Post.