Ein Editorial von Olivier Bault, Korrespondent der Visegrád Post in Warschau.
Es entspricht zweifelsohne nicht dem Wortlaut und sogar nicht mal dem Geist der europäischen Verträge und somit nicht dem Rechtsstaat, aber was soll’s! Der Zweck heiligt die Mittel, und da Polen, zu Recht oder Unrecht, von den Eurokraten und Progressisten als einer der Hauptakteure der laufenden „populistischen“ Revolte angesehen wird, ist dann alles gut, um zu versuchen, der liberal-libertären bzw. EU-hörigen Opposition gegen Jarosław Kaczyński zu helfen, der nicht nur ein Herz und eine Seele mit Viktor Orbán ist, sondern angesichts der Europawahlen Verhandlungen mit dem Italiener Matteo Salvini und dem Spanier Santiago Abascal (dem Anführer der Bewegung Vox) führt.
So hat der niederländische Sozialist Frans Timmermans, erster Vizepräsident der Europäischen Kommission und EU-Kommissar für Bessere Rechtssetzung, interinstitutionelle Beziehungen, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtecharta, Mitte März angekündigt, dass er im Wahlkampf an den Kundgebungen zweier polnischen Parteien teilnehmen werde: der sozialdemokratischen SLD (Nachfolgepartei der ehemaligen Kommunistischen Partei) – die sich am Wahlkampf zusammen mit den Liberalen im Rahmen einer „Europäischen Koalition“ beteiligt, die „Regenbogenkoalition“ genannt wird –, und der ultralibertären Partei Wiosna (Frühling) des Homosexuellen und militanten Homosexualisten Robert Biedroń. Erinnern wir en passant daran, dass der Vizepräsident der Europäischen Kommission gewünscht hätte, dass die Kommission die „Homoehe“ in ganz Europa durchsetze, was dies irgendwo auch erklärt. Was seltener ist, hat Frans Timmermans anlässlich der Ankündigung seines Engagements vor der Presse die Politik des PiS im sozialen Bereich gelobt und erkannt, dass die früheren Regierungen (unter der Führung des jetzigen Präsidenten des Europäischen Rates Donald Tusk) diesen Bereich vernachlässigt hatten. So erfuhr man auch am 27. März, dass Herr Timmermans, der als Mitglied der Europäischen Kommission angeblich das kollektive Interesse aller EU-Staaten vertreten und keine mit seiner Funktion unkompatible Aktivitäten haben sollte, sich anfangs April mit Herrn Biedroń treffen werde. Man muss dazu sagen, dass gemäß dem Prinzip des Spitzenkandidaten, das in den Verträgen nicht vorgesehen ist, doch seit 2013 von der Europäischen Kommission empfohlen und vom Europäischen Parlament mit der Ernennung des Alkoholikers Jean-Claude Juncker an die Spitze der Kommission eingerichtet wurde, den Mitgliedstaaten ein Kandidat vom Europaparlament vorgeschlagen wird. Und Frans Timmermans ist eben der Kandidat der sozialistischen Fraktion für den Vorsitz der Europäischen Kommission nach den Wahlen vom kommenden Mai, was einiges bezüglich seiner Haltung gegenüber den von „Populisten“ regierten Ländern erklärt, die entsprechend von der Linke verhasst sind, so insbesondere Polen und Ungarn.
Doch gibt es eine weitere Institution, von der man erwarten könnte, dass sie mindestens so tun sollte, als sei sie unparteiisch, und sich nicht unmittelbar im Wahlkampf der Mitgliedstaaten einmische. Diese Institution ist der Gerichtshof der Europäischen Union. Das Verhalten dieses Gerichtshofes hatte einige Zweifel erweckt, als seine spanische Vizepräsidentin zwei Tage vor den Regional- und Gemeindewahleneine einstweilige Verordnung erlassen hatte, die die polnische Parlamentsmehrheit und die Regierung Mateusz Morawieckis aufforderte, die Umsetzung der Reform des Pensionsalters der Richter des Obersten Gerichts (Sąd Najwyższy) und des Obersten Verwaltungsgerichts (Naczelny Sąd Administracyjny, NSA) auszusetzen. Ignorieren wir mal die Tatsache, dass der Gerichtshof der Europäischen Union sich den europäischen Verträgen entsprechend über diese Frage nicht kümmern sollte. Ignorieren wir auch die Tatsache, dass eine einstweilige Verfügung dieser Art, die von einem einzigen Richter erlassen wird, mit einer unparteiischen Justiz wenig zu tun hat. Aber vor allem, wieso wurde eine solche Verfügung bezüglich einer Klage der Europäischen Kommission, die älter als ein Monat war, genau zwei Tage vor einer Volksabstimmung erlassen? Das konnte eigentlich nur mit dem Zweck geschehen sein, das Ergebnis der Wahlen zu beeinflussen, und in Polen waren sich die Kommentatoren sowohl rechts wie links darüber einig, dass die an der Weichsel ziemlich mediatisierte Entscheidung dem PiS einige Punkte habe verlieren lassen.
Zufall… würden Sie sagen? Nein, denn der Gerichtshof der Europäischen Union bereitet sich darauf, dies nochmals zu tun. Seit Monaten leiten manche militante polnische Richter Vorabentscheidungsverfahren an den Gerichtshof der EU weiter, um ihn zu zwingen, sich mit der Thematik der Unabhängigkeit des Landesrats für Gerichtsbarkeit (Krajowa Rada Sądownictwa, KRS) zu befassen – und auch das ist eine Frage, über die der Gerichtshof der Europäischen Union sich nicht kümmern dürfte, wenn er sich an den Verträgen halten würde. Eine Verhandlung fand Mitte März statt, infolgederen angekündigt wurde, dass die Meinung des Staatsanwalts… am 23. Mai bekanntgegeben werde, also drei Tage vor den Europawahlen! Damit kann man freilich nicht bis auf den 27. warten, um das Ergebnis der Wahlen nicht zu beeinflussen? Gewiss wird diese Meinung eine Schlüsselreform des PiS in Frage stellen, dem dann vorgeworfen werden soll, dass er die Unabhängigkeit der polnischen Justiz untergraben habe.
In Erwartung dessen hat das vorschriftsmäßig angerufene polnische Verfassungsgericht sein Urteil in dieser Frage am Anfang der Woche gefällt: die vom PiS beschlossene Reform des Landesrats für Gerichtsbarkeit ist nicht verfassungswidrig, wie auch immer die Meinung der EU-Staatsanwaltschaft darüber sei.
Übersetzt von Visegrád Post.