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EU-Gelder gegen Rechtsstaatlichkeit und „europäische Werte“: Angriff gegen Polen und Ungarn?

Lesezeit: 11 Minuten

Von Olivier Bault.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Kurier.plus veröffentlicht.

Europäische Union – „Je mehr ich Timmermans über den Rechtsstaat sprechen und Fragen beantworten höre, desto mehr wird mir offenkundig, dass die Spitzenkandidaten vorübergehend ihren bezahlten EU-Posten während des Wahlkampfs aufgeben sollten,denn zu Recht oder nicht wirft es den Schatten des politischen Verdachts auf alles, was sie tun.“ Diese Bemerkung wurde am 3. April von der Korrespondentin in Brüssel des Wall Street Journal, Laurence Norman, nach einer Pressekonferenz des Ersten Vizepräsidenten der Europäischen Kommission und EU-Kommissars für Bessere Rechtssetzung, interinstitutionelle Beziehungen, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtecharta auf Twitter geäußert. Der niederländische Sozialist Frans Timmermans ist gleichzeitig Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) und bewirbt sich als Nachfolger Jean-Claude Junckers als Präsident der Europäischen Kommission, die nach den Europawahlen vom Mai 2019 neugebildet wird. An dem Tag, wo Laurence Norman jene kritische Bemerkung twitterte, schlugen Frans Timmermans und die Europäische Kommission vor, man solle sich überlegen, ob die Mitgliedstaaten neue Instrumente für die Kontrolle auf EU-Ebene ihrer möglichen Verletzungen des Rechtsstaats annehmen würden. „Die Arbeitsfähigkeit der EU hängt insgesamt vom Rechtsstaat in jedem einzelnen Mitgliedsstaat,“ so der niederländische Kommissar, der hinzufügte, dass „es weiterhin Widerwillen – ich muss das ehrlich einsehen – unter den Mitgliedstaaten gibt, peinliche Angelegenheiten untereinander anzusprechen […] Das ist etwas, womit die Mitgliedsstaaten im Europäischen Rat werden konfrontiert werden müssen. Wenn sie mehr Wirkung erreichen wollen, dann müssen sie auch mal in den sauren Apfel beissen. Und wie sie dies tun, ist etwas, was sie entscheiden müssen, und die Kommission ist da, um ihnen dabei zu helfen.“

Beide Spitzenkandidaten befürworten einen neuen Mechanismus, um die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in Mitgliedstaaten zu beobachten.

Diese Initiative folgte unmittelbar einem gemeinsamen Vorschlag Deutschlands und Belgiens bezüglich eines neuen Mechanismus um die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit unter den Mitgliedstaaten jährlich zu überprüfen. Ein solcher Mechanismus würde zur schon vorhandenen Artikel-7-Prozedur hinzukommen, die in den EU-Verträgen schon verankert ist, und würde „die Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit des Justizwesens, die Effektivität des Rechtsschutzes und der Rechtssicherheit“ decken und würde „nicht nur für zwei oder drei Länder sondern für alle zur Anwendung kommen“. Die Europäische Kommission möchte nun eine Phase der Überlegung diesbezüglich im Europäischen Rat (unter den Staats- und Regierungschefs) einleiten.

Mitte März sagte der CSU-Politiker Manfred Weber, EVP-Spitzenkandidat für die Nachfolge Jean-Claude Junckers in der künftigen Kommission und daher der Hauptkonkurrent Timmermansʼ, in einem von ihm mitverfassten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass er, falls er Junckers Nachfolger werden sollte, einen neuen Mechanismus einführen würde, um die Einhaltung der Rechtsstaatluchkeit in den Mitgliedsstaaten zu kontrollieren. Gemäß Weber haben die Artikel-7-Verfahren gegen Polen und Ungarn sehr starke Signale an diese Länder geschickt, doch sei es ein etwas überdimensioniertes Instrument, das schwierig zum Handhaben sei. Deswegen hätte er lieber ein neues Instrument, um Mitgliedstaaten kontrollieren und bestrafen zu können, ohne dass die Einstimmigkeit der übrigen Länder notwendig sei, wie dies letztendlich für das Sanktionsverfahren gemäß Artikel 7 des EU-Vertrags erforderlich ist. Zu diesem Zweck befürwortet Weber ein Komitee von unabhängigen Experten, das regelmäßig solche Angelegenheiten wie die Unabhängigkeit des Justizwesens in den Mitgliedsstaaten bewerten und „objektive“ Ratschläge darüber liefern würde, welche Sanktionen gegen ein bestimmtes Land aufgehängt werden sollten.

Beide Spitzenkandidaten möchten also, dass diese neuen Mechanismen ohne Änderung der bestehenden Verträge entwickelt und implementiert werden. Manfred Webers Vorschlag kam gerade eine Woche nach dessen Treffen mit dem polnischen Oppositionsführer Grzegorz Schetyna, dem er seine Unterstützung in der Kritik der polnischen Regierung brachte, die er beschuldigte, gegen die polnischen Interessen innerhalb der EU zu arbeiten.

Ein für den Rechtsstaat zuständiger EU-Kommissar mit fortschrittlicher Agenda.

Was seinen sozialistischen Konkurrenten betrifft, so war Frans Timmermans gerade in Warschau um an einer Kundgebung der kleinen linken pro-LGBT-Partei Wiosna (Frühling) zwei Tage vor dem EU-Rat am 9. u. 10. April in Luxemburg teilzunehmen. Zu beiden Anlässen (zuerst als Politiker im Wahlkampf, dann als EU-Kommissar) beschuldigte er die PiS-Mehrheit im Parlament bzw. die PiS-Regierung die Unabhängigkeit des Justizwesens mit ihren Reformen geschwächt zu haben. Am 9. und 10. April besprach der EU-Rat über die Artikel-7-Verfahren gegen Polen und Ungarn. Am gleichen Tag, wo der Erste Vizepräsident der Europäischen Kommission die polnische Rechtsregierung vor den Außenministern der EU-28beschuldigte, den Rechtsstaat zu verletzen, wurde ein Interview mit ihm auf dem EU-finanzierten Portal Euractiv veröffentlicht, in dem Timmermans dazu aufrief, nach den Wahlen eine Koalition zwischen der SPE, der EVP und den Liberalen der ALDE-Fraktion gegen dem zu bilden, was er die „extreme Rechte“ nannte.

Es sei dabei bemerkt, dass der ungarische Staatssekretär für internationale Kommunikation, Zoltán Kovács, schon im Januar auf den Status Timmermansʼ als Spitzenkandidat hinwies und dessen Suspendierung als EU-Kommissar forderte, da es nicht möglich sei, dass „eine Person, die sich um einen Sitz im Europaparlament bewirbt, [gleichzeitig] ein aktives Mitglied der Kommission sei bzw. eine aktive Rolle in der Kommission spiele“.

Der Verdacht, dass der Vorschlag, die Kontrolle der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit seitens der Mitgliedsstaaten zu verstärken, spezifisch gegen Polen und Ungarn gerichtet bzw. politisch motiviert sei, ist nicht neu. Die EU-Kommissarin für Justiz, Verbraucherschutz und Gleichstellung, Věra Jourová, war die erste, die eine Koppelung der Zahlung der EU-Gelder mit der strikten Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der „europäischen Werte“ vorgeschlagen hatte. Im Februar 2018 traf sie sich mit dem polnischen Außenminister, der die Ablehnung seines Landes gegen dieses Projekt und seine Befürchtung geäußert hatte, dass ein solcher Mechanismus nur bestimmte Länder treffen würde. Wie Jacek Czaputowicz selbst berichtete, antwortete ihm dann Jourová, dass die Subventionen für französische Bauern ebenfalls suspendiert werden könnten, falls Marine Le Pen die Wahlen gewinnen und Frankreich die „europäischen Werte“ nicht mehr einhalten solle.

Eine neue Regelung um die Zahlung von EU-Geldern an Länder zu suspendieren, die die Rechtsstaatlichkeit verletzen, wurde im April vom Europaparlament verabschiedet.

Am 4. April 2019 stimmte das Europaparlament einem neuen Gesetzentwurf zu, demgemäß „Regierungen, die Gerichte behindern bzw. es versäumen, gegen Korruption vorzugehen, die Suspendierung der Auszahlung von EU-Geldern riskieren“. Wenn dieser von der Kommission vorgeschlagene und vom Parlament veränderte Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten vom EU-Rat adoptiert werden sollte, wird es der Europäischen Kommission obliegen, die Zahlung der EU-Gelder vorzuschlagen, wenn sie der Meinung ist, dass eine nationale Regierung und deren Parlamentsmehrheit „die Unabhängigkeit des Justizwesens gefährden“, die „Zugänglichkeit und Wirksamkeit des Rechtswegs“ einschränken, bzw. die „Verwaltungskapazität eines Mitgliedstaats im Hinblick darauf, die mit der Mitgliedschaft in der Union einhergehenden Verpflichtungen zu erfüllen“ gefährden. In dieser Hinsicht wird die Kommission ein beratendes Gremium unabhängiger Sachverständiger“ einrichten sollen, das „die Kommission dabei unterstützen [soll], generelle Mängel in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in einem Mitgliedstaat zu ermitteln, welche die Grundsätze der wirtschaftlichen Haushaltsführung oder den Schutz der finanziellen Interessen der Union beeinträchtigen oder zu beeinträchtigen drohen.“

Der Geltungsbereich dieser neuen Regelung würde sehr weit ausfallen, da es vorsieht, dass das „Rechtsstaatsprinzip die in Artikel 2 EUV und in den Kriterien für die Mitgliedschaft in der Union gemäß Artikel 49 EUV verankerten Werte, auf die sich die Union gründet; es umfasst die Grundsätze der Rechtmäßigkeit, die gleichbedeutend ist mit einem transparenten, rechenschaftspflichtigen, demokratischen und pluralistischen Gesetzgebungsprozess, der Rechtssicherheit, des Verbots der willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt, des Zugangs zur Justiz und des wirksamen Rechtsschutzes einschließlich des Schutzes der Grundrechte, wie sie in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in internationalen Menschenrechtsübereinkommen niedergelegt sind, vor unabhängigen und unparteiischen Gerichten , der Gewaltenteilung, der Nichtdiskriminierung und der Gleichheit vor dem Gesetz“.

Dank einem neuen Instrument, das dafür gedacht ist, Druck auf Polen, Ungarn und Rumänien auszuüben, könnte sich die Europäische Kommission dann praktisch bei jedem nationalen Gesetz einmischen.

Das würde praktisch der Europäischen Kommission das Recht geben, bei jedem Gesetz mitzureden und würde der Europäischen Kommission wie auch dem Europaparlament erlauben, Druck auf einen Mitgliedstaat auszuüben, ohne die strikten Bedingungen des Artikels 7 des EU-Vertrags einhalten zu müssen, wenn diese „ein echtes Risiko für eine ernsthafte Verletzung der in Artikel 2 erwähnten Werte durch einen Mitgliedstaat“ beobachten. Die vorgeschlagene Regelung geht nicht nur wesentlich darüber hinaus, was in den bestehenden Verträgen vorgesehen wird, sondern würde es der Europäischen Kommission erlauben, Polenbloß auf den Verdacht der fehlerhaften Anwendung der Grundrechtechartazu sanktionieren bzw. auf den Europäischen Gerichtshof zurückgzureifen, falls es notwendig sein sollte, ihr Recht zu bestätigen, die EU-Gelder einzufrieren trotz des Protokolls Nr. 30 über die Anwendung der EU-Grundrechtecharta bezüglich Polen und Großbritannien, das eindeutig besagt, dass „Die Charta keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung [bewirkt], dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen Polens oder des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen.“Wie man weiß, wird dieses Protokoll schon weitgehend von der Europäischen Kommission und vom Europäischen Gerichtshof in ihren Verfahren gegen Polen wegen dessen Justizreform aktiv ignoriert.

All das geschieht an einem Moment, wo der Artikel 7 gegen Polen und Ungarn aktiviert wurde, ohne dass es mangels einer qualifizierten Mehrheit im Rat eine Aussicht gebe, um „eineschwerwiegende und anhaltende Verletzung durch einen Mitgliedsstaat der in Artikel 2 aufgelisteten Werte der Union“ festzustellen, abgesehen von der erforderlichen Einstimmigkeit, um „beschließen [zu können], bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten“.

Verletzung der Rechtsstaatlichkeit auf EU-Ebene.

Die konsequente Anstrengung der Europäischen Kommission und des Europaparlaments aber auch mancher Mitgliedstaaten, darunter Frankreichs und Deutschlands, um „Übergangslösungen“ zu finden, damit die EU sich – im Bezug auf einige Länder allein – in Bereiche einmischen könne, die der Vertrag von Lissabon den einzelnen Mitgliedsstaaten überlässt, wirft im Gegenzug sehr ernsthafte Fragen über die Fähigkeit der EU, selber die Rechtsstaatlichkeit einzuhalten. Wie man im Bericht von Euractiv über die vorgeschlagene Regelung über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von allgemeinen Mängeln bezüglich der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten lesen kann, wird „der Entwurf als ein neues Werkzeug angesehen, um die Gefährdung der Unabhängigkeit der Gerichte und die Korruption in Ländern wie Polen, Ungarn und Rumänien zu bekämpfen“, denn in der Tat erhalten diese Länder viel mehr Gelder als sie selber zum EU-Haushalt beitragen, wodurch dieser Kontrollmechanismus sie härter treffen könnte als z.B. Deutschland oder Frankreich, die in der EU Netto-Zahler sind.

Es sollte daran erinnert werden, dass um das Artikel-7-Verfahren im September 2018 gegen Ungarn zu eröffnen, der Vorsitz des Europaparlaments die Regeln ändern und die Enthaltungen beim Auszählen der Stimmen ausschließen musste, um die vom Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union geforderte Zweidrittelmehrheit erreichen zu können. Aus diesem Grund hat die ungarische Regierung entschieden, die Gültigkeit der Abstimmung vor dem  Gerichtshof der Europäischen Union anzufechten. Was die Europäische Kommission anbelangt, so zeigte sie ihre eigene Missachtung der Rechtsstaatlichkeit, als sie im Februar 2018 Jean-Claude Junckers Kabinettschef zu ihrem Generalsekretär ernannte. Selbst das Europaparlament „glaubt, dass die Europäische Kommission es versäumte, die Prinzipien von Transparenz, Ethik und Rechtsstaatlichkeit im Verfahren zu achten, das sie befolgte, um Martin Selmayr zu ihrem Generalsekretär zu ernennen“ und rief im letzten Dezember Herrn Selmayr auf, zurückzutreten, bzw. forderte, dass „die Kommission ein neues Verfahren bestimme, um ihren Generalsekretär zu ernennen, das die Einhaltung der höchsten Standards in Bezug auf Transparenz, Ethik und Rechtsstaatlichkeit sicherstelle,“ doch versäumte die Kommission, sich danach zu richten.

Wenn die Rechtsstaatlichkeit eine Ausrede ist, um ideologische Konflikte auszutragen.

Die neue Regelung, die die Auszahlung von EU-Geldern mit der wahrgenommenen Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der im Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union aufgelisteten Prinzipien bringt auch das Risiko einer Europäischen Kommission, die Druck auf mitteleuropäische Länder ausüben würde, um z.B. die „Homoehe“ zu legalisieren. Und in der Tat ist es so, dass Timmermans das im Artikel 2 genannte allgemeine Prinzip der Rechtsstaatlichkeit benutzt, um zu argumentieren, dass die Europäische Kommission sich in die polnischen Reformen bezüglich der Gerichtsbarkeit einmischen kann und soll. Ferner könnte das im gleichen Artikel 2 genannte allgemeine Prinzip der Nichtdiskriminierung dafür benutzt werden, dass die Europäische Kommission Druck auf die Mitgliedsstaaten ausübe, damit das, was die LGBT-Lobby als „gleichgeschlechtliche Ehe“ bezeichnet, legalisiert werde. Unter anderen Erklärungen der gleichen Art soll der Erste Vizepräsident der Europäischen Kommission und sozialistische Spitzenkandidat Frans Timmermans bei einem 2015 in Brüssel von der internationalen LGBT-Organisation ILGA Europe organisierten Galaerklärt haben, dass „die Kommission weiterhin versuchen sollte, alle Mitgliedsstaaten der EU dazu zu bringen, gleichgeschlechtliche Ehen sowie sonstige Ehen uneingeschränkt anzunehmen.“

Und darüber hinaus gibt es noch einen Grund zu befürchten, dass ein neuer Mechanismus, der die Auszahlung von EU-Geldern mit der Eingaltung der Rechtsstaatlichkeit koppeln würde, mißbraucht werde. Der Bericht, auf dessen Basis das Europaparlament dem Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn zugestimmt hat, war in der Tat politisch motiviert und ging weit über die in den europäischen Verträgen verankerten Prinzipien hinaus. Der sogenannte Sargentini-Bericht – nach dessen Autorin, der niederländischen grünen Europaabgeordneten Judith Sargentini –, der dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) im April 2018 genau fünf Tage nach dem dritten Wahlsieg des Fidesz bei Parlamentswahlen vorgelegt wurde, fordert eigentlich die bestätigte Parlamentsmehrheit auf, all ihre Reformen seit 2010 zurückzunehmen und scheint hauptsächlich auf Informationen aus der ungarischen Opposition bzw. linken Organisationen zu beruhen. Die Art und Weise, wie der LIBE-Ausschuss seine Berichte vorbereitet, konnte man im September 2018 in Warschau beobachten, als eine vom britischen sozialistischen Europaabgeordneten Claude Moraes geführte Delegation an einem „Moraes-Bericht“ arbeitete, auf dessen Basis das Europaparlament seine Zustimmung für das im Dezember 2017 von der Europäischen Kommission gegen Polen eingeleitete Artikel-7-Verfahren geben soll. Abgesehen von der Anwältenorganisation Ordo Iuris, die eine konservative Pro-Leben-Organisation ist, gehörten alle anderen von der Moraes-Delegation befragten Organisationen zur liberalen und linken Opposition, einschließlich Abtreibungsbefürworter wie Czarny Protest (Schwarzer Protest) bzw. Federacja na rzecz Kobiet i Planowania Rodzinnego (Verband für Frauen und Familienplanung). Gemäß dem Abgeordneten Nicolas Bay des französischen Rassemblement National, der zur Delegation gehörte, und dem Anwalt der Ordo Iuris Timoteusz Zych selbst, wurde Zych  von der niederländischen grünen Abgeordneten Judith Sargentini, von der italienischen kommunistischen Abgeordneten Barbara Spinelli und von Moraes ständig unterbrochen. Diese drei Europaabgeordneten brachten unaufhörlich das Gespräch von der Rechtsstaatlichkeit weg auf die Abtreibungsfrage hin, obwohl die Abtreibungsregelung nicht in der Kompetenz der EU liegt und keinen Platz in einem Bericht finden sollte, dessen Ziel es sei, darüber zu informieren, ob das Europaparlament „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 des Vertrags genannten gemeinsamen Werte durch einen Mitgliedstaat“ beobachtet. Man merke auch, dass der polnische konservative Pro-Leben-Parlamentarier Marek Jurek auf Antrag Claude Moraesʼ durch ein Votum mit der Mehrheit der Stimmen im LIBE-Ausschuss aus der Delegation ausgeschlossen wurde. Zu diesem Zweck erließ der Ausschuss kurzfristig eine Regelung, die besagt, dass Abgeordnete aus dem untersuchte Land der Delegation nicht angehören dürfen, damit die Unbefangenheit des Verfahrens gewährleistet werden könne.

Die Kommission benutzt schon fiskale Regelungen, um die guten Europäer zu begünstigen und die schlechten zu strafen

Ein weiteres Beispiel für die Weise, wie neue Regelungen der EU einen großen Einfluss auf die Entscheidungen gibt, die normalerweise auf nationaler Ebene getroffen werden sollen, bzw. wie diese neue Macht von der Europäischen Kommission ideologisch missbraucht werden kann, zeigt die Art, wie der Europäische Fiskalpakt aus dem Jahr 2013 letztes Jahr benutzt wurde, um den italienischen Haushalt zurückzuweisen. Gemäß dem Fiskalpakt müssen die Mitgliedsstaaten jedes ihren Haushalt für das Folgejahr der Europäischen Kommission vorlegen. Für 2019 hat die Europäische Kommission den italienischen Haushaltsplan mit einem vorgesehenen Defizit von 2,4% des BIP zurückgewiesen, während sie den französischen Haushaltsplan mit einem Difizit von 2,8% des BIP, und später infolge der Gelbwestenproteste sogar von oberhalb der vom Maastrichter Vertrag festgelegten Obergrenze von 3% genehmigte. Im Falle von Italien ist es das erste Mal, dass die Europäische Kommission einen nationalen Haushalt zurückgewiesen bzw. gedroht habe, den Europäischen Rat zu bitten, finanzielle Sanktionen gegen den Mitgliedsstaat zu verhängen, was zur Folge hatte, dass die Zinsen über die italienischen Schulden auf den Finanzmärkten gestiegen sind, und die Regierung von Giuseppe Conte gezwungen wurde, ihren Plan zu revidieren. Man kann sich schon fragen, ob dies damit verknüpft sei, dass Italien zum ersten Mal eine „populistische“ Regierung hat, da der französische sozialistische Wirtschafts- und Währungskommissar Pierre Moscovici keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber einem der beiden italienischen Koalitionspartner, nämlich der rechten Lega Nord gemacht hat. U.a. verglich er die Mitglieder der Lega mit den Schwarzhemden Mussolinis, nannte sie „Faschisten“ und erklärte, dass er „diese Leute bis zum letzten Atemzug bekämpfen“ würde. Interessanterweise erklärte EU-Kommissar Pierre Moscovici in einem letztes Jahr auf dem öffentlichen Fernsehkanal Public Sénatausgestrahlten Interview, dass er zwei Hauptklüfte in der EU sehe: „Die erste Kluft liegt zwischen den Pro- und Antieuropäern. Es ist die Kluft zwischen denen, die an der liberalen Demokratie hängen, und denen, die gegen die liberale Demokratie opponieren. Und aus diesem Standpunkt heraus sind Herr Orbán, Herr Kaczyński, Frau Le Pen und Herr Salvini diejenigen, die man politisch bekämpfen müsse, weil, falls sie gewännen, Europa sich verändern würde. Aber es gibt eine zweite Kluft: Ich glaube nicht, dass es genügend ist, Proeuropäer zu sein, um fortschrittlich zu sein. Fortschrittlich zu sein heißt mehr als das. Das bedeutet, dass man eine fortschrittliche Politik befürworte, dass man versucht, Ungleichheiten zu verringern, und das bedeutet auch, dass man willens ist, gegen den Klimawandel zu kämpfen“.

Dies allein beweist zwar nicht, dass die unterschiedliche Herangehensweise gegenüber den italienischen und französischen Haushaltsplänen ideologisch motiviert gewesen sei, doch ist es auch wert, daran zu erinnern, dass der deutsche Kommissar für Finanzplanung und Haushalt Günther Oettinger (CDU) im vergangenen November dafür argumentierte, ein größeres Defizit zwischen 2,8% und 3,2% für Frankreich deswegen zu akzeptieren, weilStaatspräsident Emmanuel Macron „eine starke Stütze der Europäischen Union“ darstelle. Zusammen mit der tschechischen Kommissarin Věra Jourová ist Günther Oettinger ein starker Befürworter des Gedankens einer Verkoppelung zwischen der Auszahlung der EU-Gelder und der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit, was Polen und Ungarn ablehnen.

Vorsicht: „Die der Union eingeräumten Rechte [sind] für sie Ursache der Kriege, und nicht der Macht“

Es ist daher zu befürchten, dass ein solcher Mechanismus gegen Länder mit konservativer bzw. rechter Regierung benutzt werde, die ein föderales Europa ablehnen, sowie Polen und Ungarn heute, und auch – aufgrund der Ansichten Brüssels über Einwanderung – gegen Länder, die es ablehnen, ihren Anteil an illegalen Migranten aufzunehmen. Letztendlich könnte ein solcher Mechanismus sehr wohl die Europäische Union weiter schwächen bzw. sogar deren Existenz beenden. Die Befürworter eines solchen Mechanismus wären gut beraten, Über die Demokratie in Amerika von Alexis de Tocqueville nachzulesen, in dem der französische Diplomat, Politikwissenschaftler und Historiker des 19. Jh. die amerikanische Föderation mit Konföderationen ähnlich der heutigen EU vergleicht, die keine eigenen Gerichte, Polizei und Armee hatten, um ihre Gesetze aufzuzwingen, und daher in dem Bereich auf ihre Mitgliedsstaaten angewiesen waren. In diesem 1835 veröffentlichten Werk, merkte Tocqueville an, dass traditionell in solchen Konföderationen „die der Union eingeräumten Rechte für sie Ursache der Kriege, und nicht der Macht [waren], weil diese Rechte sie nötigten, von den Einzelstaaten immer vieles zu verlangen, ohne die Mittel zur Erzwingung des Gehorsams zu vermehren. Auch sah man fast immer die wahre Schwäche der Bundesregierungen wachsen, so wie ihre Scheinmacht sich erweiterte.” (1)

(1) In Was unterscheidet die Bundesverfassung der vereinigten amerikanischen Staaten von allen anderen Bundesverfassungen, Band I. Kapitel VIII.


Übersetzt von Visegrád Post.