Von Yann P. Caspar.
Ungarn – Die ungarische Opposition hat soeben die 4/5-Abstimmung einer Prozedur hintertrieben, die an der Parlamentsordnung vorbei das Datum für die Abstimmung eines Gesetzes hätte vorverlegen können, das die Regierung vorgeschlagen hat, um die im Rahmen des seit dem 11. März geltenden Gefahrenzustands getroffenen Maßnahmen um zwei Wochen zu verlängern. Die Abgeordneten der Opposition erklären ihr Wahlverhalten durch das Nichtvorhandensein einer Zeitfrist für die Verlängerung der unter dem Gefahrenzustand getroffenen Maßnahmen, worin sie ein Ränkespiel der Regierung sehen, um Ministerpräsident Viktor Orbán mit unbeschränkter Vollmacht auszustatten – Die Partei Momentum ging sogar soweit und nannte den betreffenden Text ein „Diktaturgesetz“. Die Parlamentsmehrheit sieht hingegen in diesem negativen Votum eine Obstruktion der Opposition gegen das gute Management der derzeitigen gesundheitlichen Krise. Wie sieht es eigentlich aus?
Juristisches Wirrwarr
Während der Gefahrenzustand an und für sich unbefristet ist, wird er jedoch beendet, sobald die Gefahr abgewandt wird, und die währenddessen getroffenen Maßnahmen verlieren nach einer Frist von 15 Tagen ihre Gültigkeit, wenn das Parlament einer Verlängerung dieser Maßnahmen nicht zustimmt. Die Einhaltung der einzelnen Schritte der legislativen Prozedur hätte dem Parlament nicht erlaubt, über die Verlängerung der Maßnahmen vor ihrem Ablauf zu beraten. Es ist der Grund, wofür die Regierung entschieden hat, die Parlamentarier zu bitten, die gewöhnliche Prozedur abzubedingen, um möglichst rasch ein Verlängerungsgesetz für diese Maßnahmen verabschieden zu können. Diese Abbedingung benötigte eine 4/5-Mehrheit, sprich es bedurfte der Unterstützung der Opposition, da Orbán nur über Zweidrittel der Stimmen im Parlament verfügt.
Die Mehrheit argumentierte mit der Unvorhersagbarkeit der Situation, insbesondere mit der Hypothese einer Unfähigkeit des Parlaments, in den kommenden Wochen zu tagen und mit der offensichtlichen Unbestimmtheit bezüglich des Datums für das Ende der Gefahr. Aus diesen Gründen hat sie entschieden, keine Zeitfrist in den Gesetzestext für besagte Maßnahmenverlängerung einzutragen, und brachte vor, daß das Parlament jederzeit der Gültigkeit dieser Gesetze mit einfacher Mehrheit ein Ende setzen könne.
Und genau auf das Nichtvorhandensein einer solchen Zeitfrist im dem Parlament vorgelegten Gesetzestext stützte sich nun die Opposition, um ihr negatives Votum zu rechtfertigen bzw. zerstreute ihre Argumentation von fragwürdigen juristischen Begriffen wie Putsch, Vollmachten bzw. Diktatur.
Dabei wurde das wirkliche juristische Problem keineswegs erwähnt, das die Anwendung von mit dem Gefahrenzustand in Ungarn verbundenen Maßnahmen stellt. In der Tat bestimmt der Artikel 53 des Grundgesetzes, daß der Gefahrenzustand allein im Rahmen der geltenden Gesetze durchgeführt wird. Im vorliegenden Fall hat ein Organisationsgesetz betr. Naturkatastrophen aus dem Jahr 2011 den Gefahrenzustand gem. Art. 53 interpretiert, was juristisch betrachtet ganz einfach absurd ist, da ein Organisationsgesetz – das per se sektoral ist – nicht dafür geeignet ist, eine verfassungsrechtliche Bestimmung zu interpretieren. Dieses juristische Wirrwarr wird noch dadurch bestärkt, daß das Vorhaben des von der Regierung vorgelegten Verlängerungsgesetzes es vorsieht, Maßnahmen durchzuführen, die über das Organisationsgesetz von 2011 hinausgehen.
In Wirklichkeit hätte ein juristisch einwandfreies Krisenmanagement einer Verfassungsänderung bedurft, deren Umsetzung nicht durch Abbedingung der Parlamentsordnung durch ein 4/5-Votum erfolgen kann, was zwar nicht erlaubt hätte, das Problem des Ablaufs der gegenwärtigen Maßnahmen umzugehen, aber den Vorteil gehabt hätte, diese Ausnahmesituation in der Folge juristisch abzusichern. Diese Änderung hätte darin bestehen können, die im Organisationsgesetz aus dem Jahr 2011 in den Artikel 53 zu integrieren, um es aus der Anwendung herauszuhalten, die derzeit aus einer juristischen Sonderordnung resultiert. Die Opposition verlor jedoch über diese juristische Inkohärenz kein Wort. Überlassen wir übrigens diese Debatte den Juristen, da der Stoß vom Montag einmal mehr grundsätzlich politisch war.
Eine Falle für die Opposition
Da die Opposition per Definition im Parlament in der Minderheit ist, verfügt sie über keine Mittel, um die Verabschiedung des Verlängerungsgesetzes für die seit dem 11. März getroffenen Ausnahmemaßnahmen zu verhindern. Erinnern wir übrigens daran, daß sie nicht gegen das betreffende Gesetz gestimmt hat, sondern bloß gegen die derogative Vorverschiebung des Votums über dieses Gesetz. Nichts hätte sie daran gehindert, diese Abbedingung anzunehmen, um dann gegen dieses Gesetz zu stimmen, das sowieso mit Zweidrittelmehrheit von den Abgeordneten der Mehrheit verabschiedet wird. Sie hat nicht diese Wahl getroffen, sondern bevorzugte sie es, das Votum zu verschieben, was die derzeitige Lage nur schwieriger macht, deren Management durch eine Reihe von Maßnahmen geht, die übrigens größtenteils von der Opposition unterstützt werden.
Es ist genau die Falle, in die die Regierung die Opposition hat stürzen wollen. Die konservative Regierung ließ gemütlich die liberale Opposition, sich in die Bresche der zeitlichen Beschränkung der Ausnahmemaßnahmen stürzen. Verfassungsrechtlich ergibt diese Debatte keinen Sinn. Der Gefahrenzustand und daher die in diesem Rahmen getroffenen Maßnahmen hören mit dem Ende der Gefahr auf. Niemand kann ein Datum vorhersagen, auch nicht ungefähr, umso mehr als die derzeitige Krise wirtschaftliche und soziale Konsequenzen haben wird, die eine Weile dauern werden.
Man bräuchte wohl eine verdrehte Vorstellungskraft haben, um sich bloß einen Augenblick lang vorzustellen, dass der ungarische Ministerpräsident mit dem vom Art. 53 vorgesehenen Gefahrenzustand argumentiere, um per Erlass zu regieren, nachdem der Normalzustand zurückgekehrt sein wird. Die Opposition sorgt sich auch über die Änderung des Strafrechts, die Haftstrafen für die Personen vorsieht, die Informationen propagieren würden, die das wirksame Management der Krise hindern. Diese Strafen würden selbstverständlich nur in extremen Fällen gesprochen werden, die unmittelbar die Gesundheit der Menschen in Ungarn gefährden würden. Auch hier wäre es Unsinn zu denken, dass dies die Meinungen strafen würde, die bloß mit der Regierung nicht einverstanden sind, ansonsten würde es rasch an Plätzen in den ungarischen Gefängnissen mangeln. Seien wir aber ernst!
Die Leier über die Diktatur beinhaltet einmal mehr ihre Menge an Inkompetenz und Unehrlichkeit. Ohne jedoch in die Einzelheiten der Geschichte des alten Roms gehen zu wollen, sei es nicht unnütz, daran zu erinnern, dass die Diktatur per se eine provisorische Regierungsart ist, die dazu dient, die Stabilität wieder herzustellen. In ihrer strengen und historischen Bedeutung ermöglicht es die Diktatur, das Unvorhersehbare zu überwinden und bestimmt denjenigen, der in Krisenzeiten das Sagen hat. In diesem Sinne stützt sie sich auf die Legitimität, die daraus resultiert, Sondervollmachten zu oktroyieren, um eben die Rückkehr zum Normalzustand zu ermöglichen.
Diese Diktaturmasche ist umso unverständlicher, wenn man weiß, dass dieses Wort Diktatur seit Jahren von der Opposition mißbraucht wird, um die ungarische Regierung in Verruf zu bringen. Das würde also bedeuten, dass Ungarn bisher keine Diktatur war, obwohl die Opposition dies seit vielen Jahren behauptet? Mit der Annahme dieses Gesetzes sollte Ungarn kein demokratischer Rechtsstaat mehr sein, wie die Vertreter der liberalen Opposition dies in den letzten Tagen argumentierten? War es also bisher einer? Man würde sich in diesen von der Opposition verbreiteten Verwirrtheiten leicht verlieren können. Die Wirklichkeit ist aber folgendes: historisch und im strengen Sinne ist die Diktatur eine temporäre und legitime Regierungsart; heute wird dieses Wort benutzt, um die Länder zu verurteilen, die auch bloß für einen Augenblick von der atlantistischen Linie abweichen. Wenn die Opposition ernsthaft behauptet, dieses Wort zu gebrauchen, ohne sich zum Sprachrohr atlantistischer Interessen zu machen, dann würden ein gutes Wörterbuch bzw. ein paar Geschichtsbücher reichen, um sich zu überzeugen, dass ein Regime, das die Macht illegitim usurpiert, keine Diktatur sondern eine Tyrannei ist. Wenn man die neuliche Geschichte der Wahlen in Ungarn betrachtet, so ist es nicht sicher, dass das Wort „Tyrannei“ passend sei, um das derzeitige Ungarn zu bezeichnen. Nebenbei bemerkt sind es eben diese überwältigenden Wahlergebnisse, die Viktor Orbán seit 2010 ermöglicht hätten, ohne Unterbrechung per Erlass zu regieren. Wozu denn? Die Regierung verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Hätte die Opposition vielleicht nicht eher ein Problem bezüglich der Legitimität der ungarischen Wahlergebnisse? Kurz gesagt ist diese ganz Agitation rund um eine angebliche Diktatur absolut lächerlich und nichtsbringend.
Und dies verbirgt ein größeres und wichtigeres Problem für Ungarn angesichts der derzeitigen Krise. Die Opposition ist insgesamt dessen bewußt, was für eine Herausforderung die derzeitige Lage darstellt. Man muss ja betonen, dass sie an Ideen und Vorschlägen nicht mangelt, um diese Krise zu bewältigen. Sie hat übrigens manche Maßnahmen der Regierung begrüßt und fordert sie auf, noch weiter zu gehen. Indem sie für die Dauer dieser Krise ihre schweren Sympathien für die atlantistische Sache beiseiteschoben, haben manche ihrer Mitglieder die Regierung gedrängt, sich zu beeilen, um chinesisches Material zu erwerben, während die von Viktor Orbán seit mehreren Jahren praktizierte Öffnung nach Osten sie immer höchst angewidert hatte.
Diese Forderungen betreffen teilweise die wirtschaftlichen und sozialen Fragen. Die Opposition wirft der Regierung vor, sich bei Maßnahmen der Erleichterung bzw. bei Moratorien zu beschränken, ohne jedoch eine direkte finanzielle Kompensation für die Arbeitnehmer in Schwierigkeiten umzusetzen. Somit legt sie den Finger darauf, was eine große Schwäche der derzeitigen Regierung sein könnte, falls die Situation wirtschaftlich und sozial vollkommen aus dem Ruder geraten sollte. Denn es ist nicht ohne Interesse, daran zu erinnern, dass die derzeitige Regierung niemals eine Situation der Massenarbeitslosigkeit und der darauffolgenden Verarmung der Bevölkerung zu bewältigen hatte. Nun ist es aber nicht auszuschließen, dass eine solche Situation in Ungarn vorkomme. Daher ist es auch nicht fehl am Platze zu denken, dass der alte Thatcher-Reagan’sche Hintergrund des Fidesz unwirksam bzw. kontraproduktiv sei, um eine bedeutende Rezession zu bewältigen.
Doch ist die Opposition aufrichtig, wenn sie sich rühmt, eine soziale Ader zu besitzen? Wenn dies der Fall wäre, so hätte sie gestern ihre Zustimmung nicht an juristischen Pseudogarantien, sondern an konkreten sozialen Garantien verknüpft. Anstatt eine Blitzkampagne am Vortag des Votums über angebliche Gefahren für die Demokratie zu führen, hätte sie lieber gefordert, das dem Gesetzestext hinzuzufügen, was die meisten in Ungarn betrifft und wirklich interessiert, nämlich zusätzliche Ausnahmemaßnahmen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Im Gegenteil stürzte sie sich in die Falle, die die Regierung ihr gelegt hatte. Sie zeigte ihr wahres Gesicht, dessen Augen vor allem auf die Frage des Rechtsstaats und sehr wenig auf die soziale Frage fokussiert sind. Diesen Rechtsstaat, den die Europäische Union so gerne erwähnt. Diese Europäische Union, die die Opposition so sehr mag, und von der bis dato noch niemand auf deren Vermisstenanzeige reagiert hat… Die Opposition hat gerade ihre Karten offengelegt, während dieses hoch heikle Spiel erst begonnen hat.