Die Migrationsfrage ist ein Zankapfel zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die von der Leyen-Kommission nimmt das Dossier im Herbst 2020 dort wieder auf, wo die Junker-Kommission (2014–2019) es zurückgelassen hat. Die Führer der V4 trafen am Donnerstag in Brüssel mit der Kommissionspräsidentin zusammen, um über Migration und Finanzen zu diskutieren.
Ein „faires und verantwortungsvolles Gleichgewicht“
Dieser Pakt für Migration, der am 23. September in Brüssel vorgestellt wurde, sieht sich dem gleichen Geist der „Mobilität“ und der Gutmenschlichkeit verpflichtet wie auf dem Höhepunkt der Migrationswelle vor genau fünf Jahren. Trotz der von Ursula von der Leyen verwendeten Begriffe lassen die Richtlinien des Textes keinen Raum für Zweifel:
– Die legale Migration werden durch eine „Modernisierung“ des Asylverfahrens gefördert.
– Programme zur Familienzusammenführung werden unter dem Vorwand, einen Flüchtling seinem „Bruder“ oder „Cousin“ näher zu bringen, ausgeweitet (man beachte die Unbestimmtheit solcher Begriffe in den Stammesgesellschaften, aus denen einige Einwanderer stammen).
– Die Verteilungsschlüssel werden trotz geringfügiger Modifikationen beibehalten.
– Die Suche nach Flüchtlingen auf Hoher See nimmt zu, und die Rolle der NGOs dehnt sich auf die Überwachungsverfahren aus.
– Die an die Türkei fließenden Finanzierungen werden aufrechterhalten.
Mitteleuropa verschont?
Einige Liberale glauben hingegen, dass die Staaten Mitteleuropas sich in diesem Fall durchgesetzt hätten und dass die neuen Bestimmungen nach deren Vorgaben erfolgt wären. Der belgische Experte für Umweltgeopolitik und Migrationsdynamik François Gemenne spricht von „einem Kompromiss zwischen Feigheit und Xenophobie“.
Diese Ansicht wird vom linken Flügel im Europäischen Parlament geteilt. Die schwedische linksextreme Europaabgeordnete Malin Björk forderte die Kommission auf, nicht zuzulassen, dass eine „rassistische Regierung die Asylpolitik der EU übernimmt“. Diese Invektive veranlasste Ungarns Staatssekretär Zoltán Kovács zu einer Antwort, in der er sich entschlossen zeigte, die Rechte der ungarischen Bürger vor denen der Migranten zu verteidigen.
Tatsächlich schürt ein verfahrenstechnisches Detail den Zorn der Liberalen. Die Zwangsverteilung kann de facto in eine finanzielle Beteiligung an den Migrationsinfrastrukturen (den berühmten Hotspots) oder in die Sicherstellung der Heimkehr von Personen, deren Asylrecht abgelehnt wurde, umgewandelt werden. Dieses Spiel der Varianten birgt jedoch im Kern eine unerbittliche Logik: „Solidarität“ ist obligatorisch, und Einwanderung ist notwendig. Die V4-Länder können die Zuwanderungsquote kurzfristig begrenzen, da die Verteilungsschlüssel vom Reichtum und der Grösse des Landes abhängen (was Länder wie Deutschland oder Frankreich ernsthaft benachteiligt). Aber dies wäre nur der Anfang der Spirale. Millionen von Migranten sind immer noch in der Türkei stationiert, und die Bevölkerung südlich der Sahara wächst explosionsartig.
Es würde ausreichen, Griechenland einem unhaltbaren Druck auszusetzen und dann eine Zwangsverteilung durchzusetzen: Das ist die berühmte „Schockstrategie“, wie sie von der kanadische Journalistin, Globalisierungskritikerin und politische Aktivistin Noami Klein beschrieben wurde. In diesem Stadium handelt es sich lediglich um eine Rückkehr ins Jahr 2015. Die Neuheit des vorgelegten Textes ist der „Mechanismus zur Korrektur der kritischen Masse“. Auf gut Deutsch bedeutet dies, dass im Falle einer Flutwelle wie im Jahr 2015 die dadurch in Gang gesetzte Logik den unerschöpflichen Strom von Migranten aufgrund einer zuoberst vereinbarten Verpflichtung verteilen wird. Die Vermischung würde somit allen Teilen des Kontinents gewaltsam aufgezwungen.
Der Pakt sieht auf der Grundlage von Quoten vor, dass die Staaten zwischen der Aufnahme von Einwanderern, der Organisation der Rückführung oder der Hilfe beim Bau von Aufnahmezentren wählen können. Aber für diejenigen, die sich dafür entscheiden, die Rückführung von abgelehnten Einwanderern und anderen illegalen Einwanderern zu organisieren, muss eine Frist von acht Monaten eingehalten werden, andernfalls müssen sie die Migranten akzeptieren, die sie nicht zurückgeschickt haben. Dies ist eine offensichtliche Falle, wenn man die bestehenden Fristen für diese Fragen betrachtet.
Viktor Orbán sah sich dadurch veranlasst zu erklären, dass „Quoten umbenannt werden können, aber immer noch Quoten bleiben“. Die Führer der Visegrád-Gruppe – mit Ausnahme des slowakischen Premierministers Igor Matovič, der nicht teilnehmen konnte, aber durch den polnischen Premierminister vertreten war – haben nach dem Treffen in der polnischen Botschaft in Brüssel auf einer Pressekonferenz diesen Pakt angeprangert. „Der Vorschlag zielt darauf ab, die Einwanderung auf geeignete Weise zu steuern, wir aber wollen die Einwanderung stoppen“, erklärte Viktor Orbán. Europa sollte „eine langfristige Strategie annahmen, um es den Migranten zu ermöglichen, in ihren Herkunftsländern zu verbleiben“, fügte der tschechische Premierminister Andrej Babiš hinzu.
Zwei unvereinbare Logiken
Wenn die ungarische Position, die bereits 2015 fest formuliert wurde, von historischer Tragweite ist, dann besteht dies darin, dass sie das Migrationsproblem an der Wurzel und nicht in seinen Schwankungen anpackt. Es geht darum, zu bekräftigen, dass die europäischen Länder das Recht haben, homogen zu bleiben.
Viktor Orbán sieht daher im vorliegenden Text keinen Fortschritt: „Der Durchbruch wird erst dann kommen, wenn der ungarische Vorschlag, dass niemand in die Europäische Union einreisen kann, bevor einer der Mitgliedstaaten das (Asyl-)Verfahren abgeschlossen hat, angenommen wurde“, erklärte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán im ungarischen öffentlichen Fernsehsender M1.
Staatssekretär Zoltán Kovács verteidigte den Status quo: „Wir arbeiten daran, den EU-Mitgliedstaaten dabei zu helfen, sich gegenseitig bei der Erfüllung unserer verschiedenen Ziele zu unterstützen. Ungarn unterstützt keine obligatorischen Migrantenquoten und erwartet, die gleichen Mittel zu erhalten wie jedes andere Land, das für den Schutz der Außengrenzen zuständig ist.“
Ein seltsamer Kalender
Die Migrationsfrage ist für die Europäische Union ein brisantes Thema. Im Jahr 2015 trug sie dazu bei, ein mitteleuropäisches politisches Bewusstsein gegenüber einem westlichen multikulturellen Konsens zu kristallisieren. Auch in dieser Woche unterstützen die anderen V4-Länder die ungarische Position. Welche Rechtfertigung gibt es in einer Zeit der durch die Covid-Beschränkungsmaßnahmen verursachten wirtschaftlichen Katastrophe für die Rückkehr eines Textes ins politische Rampenlicht, der in den Augen der Staaten Mitteleuropas unerträglich ist?
Vielleicht ist es eine überstürzte Aktion. Die Brandstiftungen im Lager Moria auf der Insel Lesbos durch die Migranten selbst hat die europäische Exekutive veranlasst, ihr lange vorbereitetes Spiel zu beenden. Vielleicht bringen die kolossalen finanziellen Verpflichtungen, die die EU eingegangen ist, die Kommission dazu, die Mitgliedstaaten zu einem weiteren heiklen Thema zu zwingen. Es ist letztlich durchaus möglich, dass Migrationsfragen als Verhandlungschip dienen können, als Auftakt zu einer Ära, die, gekennzeichnet durch eine Wirtschaftskrise, die sich erst im Anfangsstadium befindet, unruhiger denn je sein wird.