Wir fordern Gleichberechtigung und die Einhaltung der Verträge!
Krisen wie die jetzige kommen einmal in einem Jahrhundert vor. Erst später werden wir ein klares Bild von den Verlusten haben, die durch die Coronavirus-Epidemie verursacht wurden. Aber wir sehen schon jetzt die Schwierigkeiten, mit denen die Menschen konfrontiert sind, die betroffenen Gebiete, die Familien, die über den Verlust eines kranken Menschen verzweifelt sind. Und obwohl die Perspektive der Impfung sich abzeichnet, sind unsere Sorgen noch lange nicht vorbei. Die Europäer sehen noch nicht den Hoffnungsschimmer, auf den sie warten. Es wird von der Europäischen Union abhängen, von ihrer Stärke, von ihren Solidaritätsbemühungen und von der Fähigkeit der Staaten, das Vertrauen der Menschen in die Zukunft wiederherzustellen.
Die Covid-19-Pandemie ist die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Es ist das erste Mal, dass wir die Gelegenheit haben, uns als befreites und geeintes Europa nach 1989 gemeinsam der Herausforderung einer Krise zu stellen. Es ist eine große Chance. Aber es ist gleichzeitig ein großes Fragezeichen: Werden wir dieser historischen Prüfung standhalten können? Ich bin sicher, dass Historiker eines Tages diesen Moment als die große Prüfung darstellen werden, die Europa zu bestehen hatte.
In diesem entscheidenden Moment aber, der unsere Solidarität erfordert, ist in Europa der Geist der Spaltung wieder aufgeflammt. Es scheint, dass die immensen Anstrengungen, die hinter dem Wiederaufbaufonds stehen, dazu verdammt sind, von denselben Ursachen zunichte gemacht zu werden, die schon immer die Schwäche unseres Kontinents waren: die Tendenz zum Streit, die Manie, immer das zu suchen, was uns trennt, anstatt das zu suchen, was uns verbindet. Die Art und Weise, in der versucht wird, Haushaltsübertragungen von Bedingungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit abhängig zu machen, weckt nicht nur ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Rechtsgrundlagen dieses Mechanismus, sondern untergräbt auch die Grundlagen des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten und den Institutionen der Union sowie die der loyalen Zusammenarbeit. Die derzeitigen Verfahren, die die Verträge umgehen, schaffen enorme Rechtsunsicherheit. Ist es wirklich das, was wir unseren Bürgern als Antwort auf die dramatische Situation, in die die Pandemie sie geworfen hat, bieten wollen? Politische Unsicherheit und Konflikte?
Es ist äußerst problematisch und paradox, dass die Union in ihrer derzeitigen Form zwar ständig die Bedeutung der Vielfalt proklamiert, aber nicht in der Lage ist, die Pluralität der Verfassungs- und Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten zu akzeptieren, die jeweils in einer anderen Tradition verwurzelt sind. In der Gemeinschaft der Europäer stehen unterschiedliche Demokratiemodelle nebeneinander, so wie sich auch die Nationen Europas voneinander unterscheiden. Die Fünfte Französische Republik ähnelt nicht der Deutschen Bundesrepublik, was ganz natürlich ist, da die eine das Ergebnis des Willens des französischen Volkes und die andere das Ergebnis des Willens des deutschen Volkes ist. Italiener und Polen, Portugiesen und Ungarn haben gleichermaßen das Recht, anders zu sein als die anderen. Die Union muss nach Solidarität in der Vielfalt streben, denn nur dann wird ihre Einheit kreativ und nützlich sein. Denn Vielfalt ist nicht der Fluch Europas, sondern dessen Reichtum.
Wir fordern Gleichberechtigung und die Einhaltung der Verträge! Die Europäische Union darf weder ihre eigenen Grundprinzipien aushöhlen, noch darf sie sie nach den politischen Wünschen einzelner Mitgliedstaaten ändern. Im Vergleich zu den Gründungsverträgen der Union hat ihr Haushaltsrecht ein niedrigeres rechtliches Niveau und kann daher unter keinen Umständen die Grundsätze der Verträge umgehen, ersetzen oder verändern. Der Mechanismus der Rechtsstaatlichkeit in seiner jetzigen Form umgeht die Verträge und „ändert“ sie sozusagen ab – genauer gesagt, er stellt eine Änderung von Artikel 7 des Unionsvertrags dar. Es muss also ganz klar gesagt werden: Der vorgesehene Mechanismus, der die Mitgliedstaaten dafür verantwortlich macht, dass die Regierungen das Recht einhalten, stellt an sich schon eine Umgehung des Unionsrechts dar und gefährdet damit die Rechtsstaatlichkeit.
Innerhalb der Union sind Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten keine Seltenheit, aber es gibt Mechanismen, die am Ende immer zu einer Einigung führen. Ich möchte glauben, dass wir in der Lage sind, eine Lösung zu finden, die sowohl den Buchstaben als auch den Geist der Verträge respektiert. Es kann auch sein, dass all dies nur das Spiel einiger weniger „Spieler“ ist, deren Interesse darin besteht, dass der Wiederaufbaufonds nicht in Gang komme, weil sie nicht zu diesem gemeinsamen Haushalt beitragen wollen, obwohl sie diejenigen sind, die am meisten vom gemeinsamen Markt profitieren.
Heute haben wir alle das gleiche Ziel vor Augen, und dieses Ziel – der wirtschaftliche Wiederaufbau Europas – muss unsere Schritte leiten. Der Mechanismus in seiner jetzigen Form öffnet den Weg für gefährliche Interpretationen. Sie verleiht Subjekten ohne demokratische Legitimation – bzw. zumindest Subjekten, die im Vergleich zu nationalen Parlamenten unter einem gravierenden „Demokratiedefizit“ leiden – große Macht und Prestige. Dies stellt eine ernste Gefahr für jeden Mitgliedsstaat und für die Zukunft der Union als Ganzes dar. Wer glaubt, davor sicher zu sein, erkennt nicht das Ausmaß der Willkür, die dieser Mechanismus möglich macht.
Es ist nicht schwer, sich eine Situation vorzustellen, in der der einen oder anderen politischen Kraft in der Union die von dem einen oder anderen Mitgliedstaat beschlossenen sozialen oder wirtschaftlichen Reformen nicht gefallen. Es reicht dann, wenn diese Reformen in den Medien oder in Debatten im Europäischen Parlament als Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit bezeichnet werden, und schon erscheint die Gefahr des Verlustes des Zugangs zu Unionsmitteln am Horizont. Ist es wirklich das, was wir wollen? Die Akzeptanz einer solchen Willkür? Die Freisetzung von zentrifugalen Kräften, die eine solche Regelung bewirken würde?
Ein solches Arrangement schafft enorme politische Möglichkeiten, um Druck auf die Prozesse des internen öffentlichen Lebens in den Mitgliedsstaaten auszuüben. Ich betone, dass dies eine Frage der internen Politik ist. Im Moment richtet sich dieser politisch motivierte Willkürmechanismus gegen Polen, aber welche Garantie haben Sie, dass er sich morgen nicht gegen einen anderen Staat richtet, der sich dem politischen Willen der Brüsseler Institutionen nicht beugen will? Während die Verträge die Souveränität respektieren und schützen, verletzt der neue Mechanismus diese und schränkt sie ernsthaft ein. Die fehlende Zustimmung zu diesem Mechanismus – also das Veto – führt nicht zu einer Schwächung der Union. Es ist ein Verfahren, das im Wesen der Strukturen der Union verwurzelt ist und dem Geist dieser Gemeinschaft und ihrem demokratischen Charakter entspricht. Es ist ein Sicherheitsventil, das für die Existenz der Union unerlässlich ist. Es ist ein Mittel, um den Kompromiss zu verteidigen und zu verhindern, dass die Mächtigen des Augenblicks versuchen, ihren Willen mit Gewalt durchzusetzen. Und die Bestätigung des Prinzips, dass die Stimmen aller Mitgliedsstaaten gleich wichtig sind.
Charles de Gaulle hat gesagt: „Wenn wir die Zukunft der Gegenwart opfern, dann nur, weil wir nicht in der Lage sind, nein zu sagen“. Polen fühlt sich mitverantwortlich für die Zukunft Europas. Deshalb ist das „Nein“, mit dem wir gegen den derzeit vorgeschlagenen Mechanismus gestimmt haben, gleichzeitig ein „Ja“ zu einem Europa, das in seiner Vielfalt wirklich geeint, frei, fair und solidarisch ist.
Mateusz Morawiecki
Ministerpräsident der Republik Polen