Von Raoul Weiss.
Ungarn – Der (zwar relative doch echte) Rückschlag für die Fidesz/KDNP-Regierungakoalition bei den Gemeindewahlen am 13. Oktober wird freilich von der ungarischen Opposition wie der Anfang einer Missbilligung der Politik Viktor Orbáns auf Landesebene interpretiert.
Einerseits ist es absolut falsch. Bei jeder Abstimmung seit 2006 vernichtend geschlagen hat die ungarische liberale Linke – obschon gegen Orbán vereint und trotz eines ziemlich exotischen Pakts mit der ehemals rechtsradikalen (und ewig radikal-opportunistischen) Partei Jobbik – im Wesentlichen bloß Budapest „zurückerobert“. Überall sonst im Lande – außer in einigen traditionellen Hochburgen der ungarischen Postsozialisten wie Szegedin – bleibt sie weit hinter den Regierungskandidaten und stagniert an einem Niveau, das ihr niemals erlauben würde, an die Macht zurückzukehren. Der Zauberstab der „Stinkefingermentalität“ hat zwar einiges gewirkt doch kommt er auch an seine Grenzen: indem sie mit den Widersprüchen einer äußerst gespaltenen Gesellschaft spielte, war die Opposition in der Lage, die Positionen von beinahe fossilisierten Parteien in der Form einer professionellen Opposition zu stabilisieren, allerdings ohne den Trend wirklich umkehren zu können. Um in die Regierung zurückzukehren sollte die ungarische Opposition vor allem wahrnehmen, dass es einer ziemlich intelligenten Wählerschaft gegenüber (die sie systematisch unterschätzt) mit dem bloßen Hass gegen den Fidesz nicht genügen wird, um das absolute Nichtvorhandensein einer politischen Vision zu kompensieren.
Andererseits wäre die Regierungskoalition ebenfalls gut beraten, ihre übertriebene Siegessicherheit der letzten Jahre etwas zurückzufahren bzw. die politischen und soziokulturellen Lehren aus dieser Wahl zu ziehen. Da sie alle der Bourgeoisie angehören und zumeist in Budapest leben, haben die Tenöre besagter Koalition (vor allem diejenigen, die aus dem liberalen Fidesz der 1990er Jahre stammen) in der Tat im Laufe der letzten drei Jahre den Widerstandsdiskurs aus dem Jahr 2010 allmählich durch eine Strategie ersetzt, die man mit zwei Hauptachsen zusammenfassen kann:
1. Es wird alles auf die Migrantenfrage gesetzt. Die Ablehnung der Einwanderung, die als Gefühl in der ungarischen Gesellschaft bei weitem mehr als die Stammwähler des Fidesz ansprechen kann, ist freilich kein schlechtes Wahlkampfthema. Aber in einem Land, wo die negativen Folgen des „Multikulturalismus“ – im Vergleich zu Frankreich z.B. – eine weit entfernte Drohung bleiben, zieht dieses Thema – wie man erwarten konnte – allmählich nicht mehr so gut.
2. Es werden die im Übrigen echten wirtschaftliche Erfolge des Landes hinausposaunt und (oft auch zu Recht) als Erfolge der Regierungskoalition verkauft. In manchen Fällen kann diese Rhetorik der technokratischen Wettbewerbsfähigkeit (im Einklang mit derjenigen Babišʼ in Tschechien) sich lohnen (wie in Kecskemét, wo die wirtschaftlichen Erfolge des heimischen Mercedes-Werks für den Wahlerfolg des Fidesz bei der Gemeindewahl sicherlich eine Rolle gespielt haben) doch hat diese Medaille auch ihre Kehrseite, und zwar:
● indem man daran erinnert, dass Ungarn reicher wird und da diese Bereicherung (wie immer) durch eine Vertiefung der Ungleichheiten begleitet wird, streut man Salz auf eine Wunde, die bei vielen ungarischen „Aufschwungsverlierern“ eitrig wird; in Budapest schlägt sich das in der Form von steigenden Mieten nieder, was selbstverständlich in den Kampagnen der Opposition ausgeschlachtet wird und der Kandidatur István Tarlósʼ nur hat schaden können;
● der wirtschaftliche Aufschwung, der von einem Boom des Tourismus begleitet wird, führt zu einer Internationalisierung von Budapest, wo die Gemeinschaft der sog. „Expats“ (die massiv der libertären und pseudo-umweltfreundlichen Rhetorik der Opposition zustimmen) nach und nach zum einem echten Wahlfaktor wird (daher auch das Auftauchen von Wahlkampfbotschaften in englischer Sprache); dieser Faktor hat u.a. bei der Wahl von Péter Niedermüller als Bürgermeister des 7. Budapester Bezirk (Elisabethstadt) – der als der kosmopolitischste der Hauptstadt gilt – durchaus eine Rolle spielen können;
● langfristig steht der ungarische Wachstum auf schwachen Beinen: die ständige Steigerung der Anzahl der Beschäftigten seit 2010 wird früher oder später gegen die Wand der Alterung der Bevölkerung anstoßen; da sie derzeit aufgrund der Austrocknung des Angebots auf dem Arbeitsmarkt steigende Löhne und Gehälter beziehen, werden die ungarischen Haushalte dann den Preis für ihren Malthusianismus zahlen (sei es durch höhere Steuern oder durch eine Anhebung des Pensionsalters); aber vor allem werden die exportorientierte Wirtschaft dieses Landes ohne Bodenschätze (außer Wasser und Tourismus) und dessen Kapitalabhängigkeit ihm wenig Chancen lassen, unbeschadet aus einer schweren internationalen Krise herauszukommen (wie diejenige, deren Bevorstehen Viktor Orbán selbst vorhergesagt hat).
Kurz gesagt: falls die Bedrohung einer Migranteninvasion, die auf sich warten lässt, bzw. das Versprechen von einem Wohlstand, der zurückgehen könnte, aus der Sicht der Wähler verschwinden sollten, verlöre die Regierungskoalition sowohl Peitsche wie Zucker und liefe dann Gefahr, ihre Wählerschaft nicht mehr mobilisieren zu können, während die Opposition die jungen Wähler umso besser mobilisiert, als viele von ihnen nunmehr zu jung sind, um sich an die bleiernen Jahre 2002-2010 zu erinnern, bzw. nicht verstehen, dass die jugendorientierte Partei Momentum, die man ihnen derzeit verkauft, bloß eine jugendliche Replik der Demokratikus Koalíció Ferenc Gyurcsánys ist – des Hauptakteurs besagter bleiernen Jahre. Die Regierungskoalition würde sich dann der Gefahr von Niederlagen aussetzen, im Vergleich zu denen der Denkzettel vom 13. Oktober – falls er nicht rechtzeitig analysiert wird – als einen freundlichen Scherz würde gelten können.
Langfristig können Fidesz und KDNP ihre Macht bis zum Ende der Karriere Viktor Orbáns (und vor allem danach!) nur dann nachhaltig sichern, wenn sie wieder von der Evolution auf die Revolution umschalten und an den Diskurs des Widerstands und der nationalen Reformen wieder anknüpfen, der die Glanzzeiten ihrer Machtübernahme im Jahr 2010 begleitet hatte.
Denn obgleich die landesweiten Ergebnisse der Gemeindewahlen nur schwer als eine Missbilligung der Politik Viktor Orbáns betrachtet werden können, stellen die Ergebnisse der Wahl in Budapest eine ziemlich deutliche Ablehnung der Führung der Stadt durch István Tarlós dar (der seit 2010 Fidesz-Bürgermeister von Budapest war und am 13. Oktober unterlag): dieser aus der liberalen Partei (SZDSZ) der 1990er stammende sehr professionelle Stadtvater hat zwar „gute Arbeit“ im üblichen Stil europäischer Hauptstädte geleistet, der jedoch daraus besteht, eine Gentrifizierung zu begleiten, die man sich damit abfindet, nicht zu bekämpfen, sich „als guter Verwalter“ über ein kulturelles Sprudeln zu freuen, das (wie das Musikfestival Sziget) weitgehend durch die liberal-libertäre Ideologie dominiert wird, oder auch Gay-Prides zu genehmigen, die man moralisch zutiefst verabscheut – man merke wohl, dass das Gewissen offensichtlich nicht wählen geht… Allerdings ähnelt ein solcher Regierungsstil – trotz der gar späten Fidesz-Mitgliedschaft Tarlósʼ – zum Verwechseln gleich demjenigen jeder x-beliebigen zentristischen Stadtverwaltung, und dann sollte man sich nicht darüber wundern, dass die Wähler im allgemeinen das Original der Kopie bevorzugen (auch wenn das Original über ein Personal verfügt, das weniger effizient ist als dasjenige der Kopie – doch hat ja die ungarische Opposition einen langen Weg hinter sich und leichtes Spiel zu lügen). Das Risiko, der Wiederholung eines solchen Szenarios auf Landesebene in drei Jahren beizuwohnen, ist zwar eher gering – doch auch nicht vollkommen auszuschließen.