Interview mit dem französischen EVP-Europaabgeordneten François-Xavier Bellamy (Les Républicains, LR): „Diese Situation verrät vor allem, dass die Frage des Rechtsstaats von anderen Fraktionen instrumentalisiert wird, um politische Meinungsverschiedenheiten zu fördern.“
Am Donnerstag, den 16. Januar wurde ein Antrag im Europaparlament (mit 446 Stimmen gegen 178 und 41 Enthaltungen) verabschiedet, der sich auf Berichte der UNO, der OSZE, des Europarats und der Europäischen Kommission stützt und meint, dass „die Situation in Polen und in Ungarn sich seit dem Anfang des Verfahrens nach Art. 7.1 verschlechtert hat“. Dieser Artikel ermöglicht die Suspendierung des Stimmrechts eines Mitgliedsstaats im Falle der Verletzung der Menschenrechte. Das Verfahren nach Artikel 7 wurde gegen Polen im Dezember 2017 und gegen Ungarn im September 2018 eingeleitet.
Der EU-Rat rief dazu auf, Polen und Ungarn konkrete Empfehlungen zu erteilen. „Die Unfähigkeit des EU-Rates, den Artikel 7 effizient anzuwenden, schadet weiterhin der Integrität der gemeinsamen europäischen Werte, dem gegenseitigen Vertrauen und insgesamt der Glaubwürdigkeit der EU,“ so der angenommene Antrag.
Ferner betont der Antrag die „absolute Notwendigkeit“, neue Mechanismen bezüglich „Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechte“ einzurichten.
Unter den Abgeordneten, die gegen diesen Antrag gestimmt haben, findet man alle LR-Mandatare und wir haben daher den LR-Spitzenkandidaten bei den letzten Europawahlen, François-Xavier Bellamy, zu diesem Thema interviewt.
Visegrád Post: Das Europaparlament hat sich mit breiter Mehrheit für die Fortführung des Verfahrens nach Artikel 7.1 EUV gegen Polen und Ungarn ausgesprochen. Sie gehören zu den wenigen EVP-Mandataren, die dagegen gestimmt haben. Warum?
François-Xavier Bellamy: Mit der Gruppe der LR-Abgeordneten haben wir gegen diesen Antrag gestimmt, weil dadurch – wie ich die Gelegenheit hatte, es während der Debatte in der Plenarsitzung zu sagen – grundsätzliche Prinzipien angestastet werden. Die Achtung des Rechtsstaats ist eine maßgebliche Frage für unsere Länder. Allerdings sollte man deswegen die Art und Weise, wie jedes Land diese Frage des Rechtsstaats behandelt, nur aufgrund einer gründlichen Argumentation und in einer äußerst genauen Weise in Frage stellen.
Ein Antrag, der damit anfing, zwei unterschiedliche Länder in einem gleichen Text zu behandeln, konnte nicht anders als zweifelhaft sein. Und ich glaube, dass diese Situation vor allem verrät, dass die Frage des Rechtsstaats von anderen Fraktionen instrumentalisiert wird, um politische Meinungsverschiedenheiten zu fördern. Ich glaube, dass jeder das Recht hat, politische Meinungsverschiedenheiten mit Viktor Orbán zu haben, doch darf man eine politische Meinungsverschiedenheit nicht zu einer solchen Anschuldigung wie diejenige des Rechtsstaats ausweiten.
Visegrád Post: Sind die Anschuldigungen also Ihrer Meinung nach nicht präzise genug? Oder sind sie falsch? Wie würden Sie sie bezeichnen?
François-Xavier Bellamy: In dem Antrag werden ganz einfach keine Fakten erwähnt, was immerhin ein wesentliches Problem darstellt. Und ich glaube, dass die sehr politische Natur dieses Vorgangs umso mehr auffällt, wenn man trotz dieses Mangels an Fakten dessen Tonalität mit der Schüchternheit vergleicht, die manche Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion an den Tag legen, wenn es darum geht, die derzeitige Situation auf Malta zu besprechen. Es wurde kein Verfahren nach Artikel 7 gegen Malta eingeleitet, obwohl die Korruption dort ein besorgniserregendes Ausmaß erreicht: eine Journalistin wurde ermordet und die Auftraggeber dieses Verbrechens sind noch nicht verhaftet worden. Da wird mit zweierlei Maß gemessen und für mich ist das nicht haltbar.
Visegrád Post: Infolge dieses Votums hat Viktor Orbán am Freitag Morgen anlässlich seines wöchentlichen Auftritts im öffentlichen Rundfunk erklärt, dass der Fidesz, seine Partei, knapp davor stehe, aus der EVP auszutreten. Allein das Stimmverhalten der Franzosen, Italiener und Spanier habe ihn noch zurückgehalten, eine solche Entscheidung zu treffen; allerdings scheint es sehr unklar, wie es nun weitergeht, da der Fidesz derzeit suspendiert ist. Würden Sie als Europaparlamentarier wünschen, dass der Fidesz in der EVP bleibt? Was denken Sie, was nun kommen wird?
François-Xavier Bellamy: Selbstverständlich wünsche ich, dass der Fidesz innerhalb der EVP bleibt. Mir scheint, dass dieses Suspendierungsverfahren zu Ende gehen soll und dass der Bericht, den die „drei EVP-Weisen“ verfassen wollen, veröffentlicht werden soll. Aufgrund dieser Arbeit scheint mir, dass wir uns wirklich anstrengen sollten, um zu verstehen, wo die Schwierigkeiten liegen, und diese zu lösen.
Ich denke, dass Europa nicht größer wird, wenn man die Spaltungen vertieft bzw. würde die EVP dadurch nicht stärker. Das sehe ich auch konkret in unserer Arbeit mit unseren ungarischen Kollegen im Europaparlament: unsere Beziehung ist positiv und nützlich. Und es wäre für uns alle eine Schwächung, wenn der Fidesz heute die EVP verlassen sollte.
Die einzigen, die Interesse daran haben, sind die linken Fraktionen, die übrigens alles tun – und dieser Antrag gehört dazu –, um zu versuchen, uns zu spalten. Während der Plenarsitzung habe ich einen Sozialisten gehört, der sagte: „Ich hoffe, dass der Fidesz bald nicht mehr auf diesen Bänken sitze“, (indem er auf die Bänke der EVP zeigte). Doch dürften wir keinen Augenblick dulden, dass es die linken Parlamentarier im Europaparlament seien, die die Agenda diktieren, die sie unserer Fraktion aufzwingen wollen. Ich denke, dass wir diese Einschüchterungsversuche anprangern sollten.
Visegrád Post: Man spricht auch öfters davon, Sanktionen gegen Ungarn und Polen bzw. auch gegen die anderen Länder zu verhängen, die die Quoten von Migranten ablehnen, indem man ihre Dotierungen aus EU-Geldern bzw. aus dem Strukturfonds wesentlich reduziere. Denken Sie nicht, dass man u.a. seitens Deutschlands nach Ausreden sucht, um infolge des Brexits Einsparungen vorzunehmen, da keine britische Pfunde mehr den EU-Haushalt füttern werden?
François-Xavier Bellamy: Nein, glaube ich nicht. Diese Themen sind nicht verbunden. Ich sehe im Parlament Mandatare, die einen größeren Beitrag der Mitgliedsstaaten fordern doch greift dies nicht unbedingt in die Debatte über die Migrantenfrage ein. Ich glaube nicht, dass es eine Verbindung dazwischen gebe.
Persönlich glaube ich keinen Augenblick an die Politik der quotenmäßigen Verteilung der Migranten unter den europäischen Ländern; diese Lösung ist ineffizient und sie löst auch nicht das wahre Problem. Im Bereich der Migration geht es nicht darum, wie man die Last einer Einwanderung unter den europäischen Ländern verteilen sollte, die wir nicht managen konnten. Die wahre Frage ist zu wissen, wie Europa die Außengrenzen des Schengenraums erneut absichern kann, um diejenigen würdevoll aufzunehmen, die unsere Solidarität brauchen, aber ohne unter unkontrollierten Migrationsflüssen zu leiden.
Die Aufstellung von Quoten ist kein Mittel, um unserer Ohnmacht ein Ende zu setzen, sondern um die Konsequenzen unserer Ohnmacht zu verwalten. Das ist keine Antwort für die grundsätzlichen Probleme unserer Länder. Im Rahmen unseres Wirkens im Europaparlament beharren wir auf diesem Standpunkt, was aber keinesfalls heißt, dass eine gewisse Solidarität gegenüber den Frontländern nicht notwendig sei. Ich denke zum Beispiel an Italien, das angesichts der Migrantenkrise, die es durchmachte, allein gelassen wurde ; aber ich glaube, dass unsere Solidarität darin besteht, die Länder zu unterstützen, die Hilfe brauchen, um die Außengrenzen Europas zu verteidigen und abzusichern, und nicht um eine Quotenpolitik durchzuführen, von der jeder gesehen hat, dass sie nicht funktioniert.