Von Olivier Bault.
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 20. Dezember 2019 in der französischen Tageszeitung Présent veröffentlicht.
Europäische Union – Die scheinbare Beruhigung der Beziehungen zwischen Brüssel einerseits und Budapest und Warschau andererseits wird nur solange gedauert haben, bis das neue Parlament und die neue Kommission sich nach den Wahlen vom vergangenen Mai eingerichtet haben.
Allerdings war es der Gerichtshof der Europäischen Union, der am vergangenen 19. November die erste Granate geworfen hatte, indem er auf die Provokation einer kleinen Gruppe von Richtern des polnischen Obersten Gerichts positiv antwortete. Die Luxemburger Richter vertraten in der Tat die Ansicht, dass es jedem polnischen Richter obliegt, zu entscheiden, ob der Landesrat für Gerichtsbarkeit (Krajowa Rada Sądownictwa, KRS), so wie er vom PiS-dominierten Parlament reformiert wurde, und die neulich gegründete Disziplinarkammer des Obersten Gerichts den in den europäischen Verträgen sehr allgemein formulierten Erfordernissen bezüglich Unabhängigkeit und Unbefangenheit der Justiz entsprechen.
Am 5. Dezember stüzten sich drei Richter des Obersten Gerichts (von insgesamt 120) auf dieses Urteil des EUGH, um willkürlich zu behaupten, dass der KRS und die Disziplinarkammer das europäische Recht nicht beachten (s. in Présent vom 10. Dezember) und manche andere polnische Richter, die offen gegen die Regierung und die Parlamentsmehrheit rebellieren, taten desgleichen. Den reformierten KRS in Frage stellen heißt allerdings die Rechtsgültigkeit der von dieser Institution genehmigten Ernennungen von Richtern bzw. Hunderte von seit dem Inkrafttreten der Reformen 2018 gesprochenen Urteilen in Frage stellen. Um zu verhindern, dass die Anarchie sich in den Gerichten des Landes breitmache, ist die polnische Parlamentsmehrheit nun dabei, eine neue Reform vorzubereiten, die es ermöglichen wird, die Richter streng zu bestrafen, die, sich auf das Urteil des EUGH stützend, sich das Recht anmaßen würden, die Rechtmäßigkeit anderer Richter in Frage zu stellen. Als Reaktion auf die Ankündigung dieser Reform versprach die Europäische Kommission, sich ganz genau damit befassen zu wollen, während die Opposition in der Woche vor Weihnachten in mehreren Städten Polens demonstrierte und erneut eine angebliche Verletzung der Unabhängigkeit der heiligen Justiz anprangerte. Die größten Kundgebungen versammelten allerdings nur ein paar tausend Demonstranten.
Gleichzeitig stimmte das Europaparlament am 18. Dezember einem Antrag zu, der Polen wegen ihrer angeblichen Diskriminierungen gegenüber Homosexuellen kritisierte. Man merke nebenbei, dass, mit der Ausnahme von François-Xavier Bellamy, die französischen LR-Mandatare – einschließlich Nadine Morano – dem Antrag zustimmten. Am gleichen Tag debattierte das Europaparlament über den Rechtsstaat in Polen und Ungarn. Was Polen betrifft wurde es eben vom derzeitigen Konflikt mit einem Teil der Richter die Rede. Der auf den PiS-Listen gewählte polnische Abgeordnete Patryk Jaki wunderte sich, dass man die unter den PiS-Regierungen erfolgten Ernennungen von Richtern in Frage stelle, während 750 von der ehemaligen kommunistischen Diktatur ernannte polnische Richter weiterhin tätig sind, ohne dass jemand daran denke, an ihrer Rechtmäßigkeit zu zweifeln. Ein anderer Richter des polnischen Obersten Gerichts wandte sich daher seinerseits an den EUGH um die Frage der Unabhängigkeit und der Unbefangenheit jener Richter angesichts des europäischen Rechts zu klären.
Das Treffen des Rats für Allgemeine Angelegenheiten (RAA) mit den Ministern für EU-Angelegenheiten am 10. Dezember wurde schon auf Initiative der sozialistischen Regierung Finnlands zum Anlass, um das im September 2018 gegen Ungarn eingeleitete Sanktionsverfahren zu besprechen. „Es dauert seit nun 15 Monaten und dieses Verfahren führt uns nirgendwohin. Es beruht auf falsche Anschuldigungen und erzeugt ein Klima des Misstrauens unter den Mitgliedsstaaten,“ beschwerte sich die ungarische Justizministerin Judit Varga.
Die linksliberalen Kräfte aus dem ehemaligen Westeuropa, die die Erben von 1968 sind, scheinen jedoch durchaus entschieden, ihren Krieg gegen die konservativen Regierungen des ehemaligen Osteuropas – sprich gegen die Erben der Dissidenz gegen den kommunistischen Totalitarismus – weiter führen zu wollen.