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Russia – Alexander Dugin ist ein russischer nationalistischer Intellektueller und Philosoph. Als Theoretiker der „4. Politischen Theorie“, Traditionalist, Anhänger eines eurasischen Raums in Opposition zur „thalassokratischen angelsächsischen“ Welt gibt es viele Gerüchte um ihn – wie u.a. dass er ein unumgänglicher und sehr einflußreicher Berater von Wladimir Putin sei bzw. gewesen sei.
Wir haben uns entschieden, dieses Interview mit Alexander Dugin aus zwei Gründen zu veröffentlichen. Erstens, weil es ausschließlich das Thema betrifft, dem wir uns hauptsächlich widmen: Mitteleuropa. Und zweitens, weil es eine interessante Sichtänderung auf Mitteleuropa seitens eines anerkannten, russischen, und darüber hinaus nationalistischen Denkers liefert. Seine Herangehensweise bezüglich einer Region, die sich früher unter sowjetischer Vorherrschaft befand und in deren manche Länder weiterhin mit einer feindlichen Haltung gegenüber Russland beseelt sind, ist viel positiver und verständnisvoller als früher, und daher durchaus erwähnenswert bzw. wird den Leser zum Nachdenken anregen.
Alexander Dugin: die Visegrád-Gruppe ist das Projekt eines größeren Osteuropa
Interview mit dem Philosophen Alexander Dugin über Mitteleuropa und die Visegrád-Gruppe
Sofia Metelkina
Interview mit dem Philosophen Alexander Dugin über Mitteleuropa und die Visegrád-Gruppe
- Welche Länder gehören, Ihrer Meinung nach, zu Mitteleuropa? Wie unterscheidet es sich von West- oder Osteuropa?
– Vor allem wurde dieser Begriff von Mitteleuropa von Friedrich Naumann als Teil der deutschen Vision eines europäischen geopolitischen Raums ins Leben gerufen. Deutschland betrachtet sich selbst als einen Anziehungspol für andere Länder, als eine Art Sondermacht, die sich von Westeuropa klar unterscheide. Aber gleichzeitig verstanden die Deutschen, dass es viele Differenzen zwischen einigen dieser Länder gibt – zwischen Polen, Rumänien, usw. Und sie entwarfen also den Begriff von Mitteleuropa, der im wesentlichen als eine deutsche Einflußzone betrachtet werden sollte.
Also wurde die Bezeichnung „Mitteleuropa“ von den Deutschen geprägt, um einen großen Raum vorzubereiten, doch wurde dieser politisch und geopolitisch nie völlig vereint. Aber gleichzeitig wurde er als etwas betrachtet, das zu vereinen sei, das vereint werden sollte. Der deutsche Philosoph Carl Schmitt formulierte eine Theorie über „Großräume“, die der erste Schritt für eine politische Integration seien. Wenn wir von Großräumen sprechen, so meinen wir eine potentielle geographische und geopolitische Einheit (so wie die Monroe-Doktrin), eine Einflußzone, die schrittweise in eine gewisse politische Einheit integriert werden sollte. Einerseits war Mitteleuropa der mit dem Projekt Großdeutschland verbundene Begriff und es beschrieb die von Westeuropa abgegrenzte deutsche Einflußzone – so z.B. sowohl von Frankreich einerseits wie auch andererseits von der russischen Einflußzone, die man als „Osteuropa“ bezeichnen kann. Das war der historische und geopolitische Grund, wieso der Begriff Mitteleuropa ins Leben gerufen wurde.
Schauen wir auf ein anderes Konzept dieser Region: Osteuropa. Diese Bezeichnung wird gewöhnlich für die Länder benutzt, sie sich östlich von Deutschland und südlich von Österreich befinden, wobei Deutschland und Österreich selbst als integraler Bestandteil Westeuropas betrachtet werden, wo sie sich Frankreich, Italien, Spanien, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien in den germanisch-romanischen Raum anschließen (um die Terminologie Nikolai Danilewskis zu benutzen). Von diesem Standpunkt aus ist Osteuropa die Zone zwischen dem Westen und Russland (Eurasien). Osteuropa ist für Russland immer wichtig gewesen, aber auch für die Westeuropäer und vor allem für die angelsächsischen Geopolitiker, weil sie Osteuropa als eine Art cordon sanitaire zwischen Deutschland und Russland betrachteten. Dieser Gedanke wurde von Harold Mackinder entwickelt.
Wir können keine eindeutige Abgrenzung zwischen Ost- und Mitteleuropa zeichnen, denn es sind Zonen, die sich überschneiden. Zum Beispiel kann sich Osteuropa mit Russland (Eurasien) oder mit Mitteleuropa überschneiden. In der Geopolitik hängt der Gebrauch dieser Bezeichnungen vom eigenen Standpunkt.
- Was denken Sie über die Visegrád-Gruppe und ihre Perspektiven?
– Ich denke, dass die Visegrád-Gruppe ein sehr interessanter und revolutionärer Gedanke ist, um einige der osteuropäischen Mächte zu vereinen, und zwar namentlich diejenigen, die zunehmend ihre Differenzen gegenüber den Rest von Europa in Bezug auf Werte, soziale Standards und die traditionelle Orientierung ihrer Gesellschaften empfinden. Das ist die Art einer besonderen Identität, die den osteuropäischen Ländern eigen ist: polnische Identität, ungarische Identität, tschechische Identität, slowakische Identität usw. Diese osteuropäischen Länder haben eine besondere geopolitische Mission, eine besondere Geschichte und eine besondere Rolle innerhalb des europäischen Zusammenhangs zu spielen.
Die Visegrád-Gruppe ist ein neuer Versuch, dem osteuropäischen Raum eine Form der Souveränität zu geben – nicht nur auf einer geographischen Grundlage sondern als eine Art besondere Zivilisation oder Subzivilisation innerhalb der europäischen. Der wesentlichste Trennpunkt, der derzeit zwischen der Visegrád-Gruppe und dem Rest der EU vonstatten geht, ist ein Schritt in Richtung eines möglichen Austritts Osteuropas aus der EU.
Der Brexit war ein Lebewohl an die EU von ihrem westlichsten Teil, vom angelsächsischen Pol. Die Engländer fühlten sich unwohl mit der EU-Bürokratie, mit den Gesetzen, die sie der traditionellen unabhängigen britischen Gesellschaft aufzwang, und mit der Last von Euro-Dummheiten. Das gleiche könnte mit der Visegrád-Gruppe geschehen, denn die Unzufriedenheit und die Enttäuschung gegenüber der EU wachsen in diesen Ländern. Die Mission der Visegrád-Gruppe ist es, eine echte Souveränität zu fordern, zur Verteidigung ihrer kulturellen Identität aufzurufen, und Anstrengungen zu unternehmen, um einen adäquaten geopolitischen Ausdruck zu vermitteln.
- Was ist die wesentlichste Besonderheit, die die Visegrád-Gruppe von der EU unterscheidet?
– Ich denke, dies geschieht hauptsächlich in der Form des Konservatismus und eines gewissen Grads an Archaismus. Zum Beispiel gibt es in Polen eine starke katholische Tradition, die Tschechen sind stolz Tschechen zu sein, und selbstverständlich gibt es eine einmalige ungarische Identität, die ebenfalls auf ihre Geschichte beruht und durch die ultraliberale Auflösung aller nationalen Werte verletzt wurde. Diese Auflösung wird besonders von George Soros und den von ihm finanzierten NGOs gefördert. Die philosophischen Unstimmigkeiten zwischen den Konzepten hinter der Open Society Foundations und denen der traditionellen Gesellschaft sind der Hauptfaktor für das Zerwürfnis zwischen Soros und Ministerpräsident Viktor Orbán, der von der großen Mehrheit der Ungarn nachdrücklich unterstützt wird.
Jedes Mitglied der Visegrád-Gruppe versucht, seine traditionelle Identität zu verteidigen. Aber die etablierte politische Linie und die wesentliche Ideologie der EU versuchen, diese Identitäten aufzulösen. Die sogenannte Ideologie der Menschenrechte lehnt es grundsätzlich ab, jede Art von kollektiver Identität, einschließlich Nationalität oder Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Deshalb sehen wir provozierte und unkontrollierte Einwanderung, Flüchtlinge, europäischen Selbsthaß usw. Der Multikulturalismus zerstört die Gesellschaft von innen heraus. Die Visegrád-Gruppe lehnt es ab, all das zu akzeptieren.
– Ist eine unabhängige Mitteleuropäische Föderation denkbar?
– Ich denke, dass die Visegrád-Gruppe der Anfang der Gründung einer sehr interessanten Struktur ist. Wir können es „Projekt Großosteuropa“ nennen. Es gibt schon mehrere Ideen und Konzepte darüber, wie es aufgebaut werden sollte. Dieses Projekt ist als eine traditionellere und konservativere Vision Europas konzipiert. Also könnte der Osteuropäische Großraum (Ich benutze lieber die Bezeichnung Osteuropa statt Mitteleuropa, und zwar aus Gründen, die ich schon erwähnt habe) im breiteren Zusammenhang der Multipolarität ein Pol für sich sein. Einerseits könnte es Europa vertreten, aber ein alternatives Europa, mit klaren europäischen Eigenschaften, Werten und Kultur, aber konservativer, vielleicht näher zum frühmodernen oder sogar vormodernen Europa. Es könnte als eine alternative Version der Entwicklung der europäischen Geschichte – mit anderen Worten nicht in der Richtung des radikalen Liberalismus und der Postmodernität. Großosteuropa könnte eine Art Einheit sein, die auf die traditionellen Werte, auf die Kultur und auf die Episteme aus der Zeit vor der postmodernen ultraliberalen Auflösung beruhen würde: eine solide und solidarische Gesellschaft statt eine flüssige Gesellschaft (s. Zygmunt Bauman). Es könnte ein Teil Europas sein, das eine alternative Orientierung wählt. Je mehr wir das beobachten, was Viktor Orbán und die anderen konservativen Leaders der Visegrád-Länder sagen, desto mehr sehen wir, wie dieses Großosteuropa sich offensichtlich als eine echte Alternative manifestiert. Es müßte nicht unbedingt pro-russisch sein – es müßte eher europäisch sein, aber weder pro-Westeuropa noch atlantistisch.
Die Visegrád-Gruppe könnte zum Herzen eines alternativen Europa werden und vielleicht eventuell Bulgarien, Serbien, den Balkan und auch Österreich einschließen. Österreich, mit seinem festen Willen, ihre Neutralität und traditionellen Werte zu verteidigen, und das die Einwanderung streng kontrollieren will, ist ein logischer Kandidat für dieses entstehende alternative Europa. Griechenland, das ebenfalls mit der EU unzufrieden ist, könnte sich auch anschließen, und in der Zukunft vielleicht sogar Italien und die Schweiz. Die Visegrád-Gruppe könnte zum Mittelpunkt einer kompletten Reorganisation des gesamten europäischen Raums werden.
Ich denke, dass Russland eine positive Rolle in diesem Prozeß spielen könnte. Ein solches Europa könnte ein neutrales Europa, oder vielleicht ein finnlandisiertes Europa sein (wenn wir uns daran erinnern: während des kalten Krieges versuchte Finnland von beiden, von Moskau und Washington gleichzeitig unanbhängig zu sein). Wir können also diese Visegrád-Gruppe im Zusammenhang mit dem Projekt Großosteuropa betrachten, und es könnte der geopolitisch neutrale, ideologisch traditionelle und politisch konservative Pol Europas sein. Dieser Prozeß wird sich Schritt für Schritt entwickeln, aber ich denke, dass es sich in einer nicht allzu entfernten Zukunft ereignen wird. Es gibt viele Faktoren, die eine Beschleunigung dieses Projekts erleichtern werden. Die EU wird die gleiche Politik der Einwanderung mit der Förderung von Transgenderismus, Transhumanismus, Postmodernität usw. zwangsläufig fortsetzen. Deutschland wird darauf beharren, ganz Europa wirtschaftlich dominieren zu wollen. Aber andererseits wird es auch eine wachsende geopolitische Souveränität Russlands geben. All das wird die Entwicklung einer neuen Alternative dringender machen.
- Wir sehen, dass Brüssel einen großen Druck auf diese Länder ausübt. Ein gutes Beispiel ist dafür Viktor Orbáns neulicher Wahlsieg – nach der Wahl sprechen alle westlichen Medien über seine „Diktatur“ und „Demokratiemangel“. Wie könnten diese Länder widerstehen und kämpfen?
– Vor allem ist es durchaus logisch, dass die Eurokraten Druck auf die Visegrád-Gruppe ausüben. Ich denke, sie werden versuchen, ihre Regeln und Agenden mittels Farbrevolutionen und vernetzter Operationsführung aufzuzwingen, indem sie die NGOs benutzen, die überall von Soros und anderen globalistischen Strukturen eingerichtet wurden. Es wird also – und es ist schon der Fall – einen enormen Druck geben: politisch, wirtschaftlich, diplomatisch usw. Das ist völlig normal.
Allerdings gibt es für sie, denke ich, Möglichkeiten, Unterstützung zu finden. Russland ist auch an einer Verstärkung der Visegrád-Gruppe interessiert – nicht weil Russland wünschen würde, seine traditionelle Einflußzone wieder zu haben (es ist sowieso unmöglich), sondern weil wir daran interessiert sind, als etwas, das von Brüssel unabhängig sein und die Anwesenheit von globalistischen Strukturen in Europa schwächen könnte. Russland wird Neutralität und wachsende Unabhängigkeit in Osteuropa unterstützen. Ich denke, dass die Mehrheit der konservativen und populistischen Bewegungen in Europa und Amerika eine solche Initiative unterstützen könnten. Das gleiche gilt für sozialistische und antikapitalistische Tendenzen.
– Welche Art von Beziehungen kann diese Region mit den USA, Russland und China haben?
– Ich denke, dass Russland nun der natürliche Verbündete für die Visegrád-Gruppe ist. Es ist zum Teil wegen Orbán. In Polen gibt es viel Russenfeindlichkeit. Aber das ist eine Frage der historischen Erinnerung, während nun aktuelle nationale Interessen und rationale Gründe vorliegen. Für das moderne Polen, denke ich, stellt Russland eher eine neue Opportunität als einen alten Feind dar. In früheren Zeiten war Russland ein Unheil für Polen, und die polnische Nation hatte viele Gründe, um Russland zu hassen. Aber heute, wenn wir einmal all das hinter uns gelassen haben, kühles, rationales Denken zeigt, dass gute Beziehungen mit Russland heute eine wichtige Angelegenheit für das konservative und tradionalistische Polen sein könnte. Russland könnte ein Schlüsselpartner sein.
Ich denke, dass China auch eine positive Rolle spielen könnte. China ist weit weg, es ist einmalig und es fördert seine eigenen Interessen. Im Zusammenhang mit der Entstehung einer multipolaren Welt hat China alle Ressourcen, um einem Projekt Großosteuropa beizustehen.
Wenn Trump zum echten Trump und nicht bloß zu einem Scheinbild werden würde, könnte Amerika ebenfalls eine positive Rolle spielen, aber nicht jetzt, denn gerade ist es nicht Trumps Amerika sondern eher ein aggressives neokolonialistisches und interventionistisches Land. Es sieht aus, als ob Trump von Neocons und fanatischen Gruppen von Armeeoffizieren entführt worden sei, die versuchen, einen Weltkrieg zu starten. In der jetzigen Situation können also die USA kein Verbündeter für Osteuropa sein. Heutzutage ist die amerikanische Politik eine Mischung aus rechtsradikalem Globalismus zusammen mit linken und linksradikalen zerstörerischen Ideologien (Big Business zusammen mit Kulturmarxismus, was ein tödliches Bündnis ist).
Sowieso denke ich, dass Osteuropa seine Verbündeten überall finden soll. In dieser Situation wären Russland und China seine Hauptstützen.
- Wie ist Ihre Meinung über die Drei-Meere-Initiative?
– Ich denke, es ist die Konsequenz früherer Tendenzen in Osteuropa, als es von Globalisten benutzt wurde, um den russischen bzw. sowjetischen Einfluß in Europa zu zerstören. Es entstand aus dem Gedanken, dass Russland der Hauptfeind war, als eine Art Fortsetzung der Kaltenkriegsmentalität. Politisch betrachtet wurde es im Bezug auf die NATO- und EU-Integration realisiert. Es resultiert daraus, dass es einen Widerspruch gibt zwischen der Fortsetzung verschiedener Projekte zur Zerstörung russischen Einflusses und der Ideologie der Visegrád-Gruppe. Ich denke, es sei jetzt für Osteuropa an der Zeit, seine gemeinsamen Interessen mit Russland zu realisieren – Russland die energetischen Lieferungen nach Westeuropa in Zusammenarbeit mit Osteuropa zu organisieren. Aber Osteuropa sollte seinen eigenen Gewinn daran absichern statt diese Initiativen zu sabotieren. Die Wiederbelebung seines Status als cordon sanitaire liegt im Widerspruch mit dem Wachsen ihrer Souveränität. Aber die Existenz der Visegrád-Gruppe zeigt eben, dass eine Wende in eine völlig neue Richtung beginnt. Die Integration Osteuropas als der Raum zwischen Drei Meeren sollte durch eine Zivilisationsrichtung und durch die Verteidigung seiner traditionellen Werte bestimmt werden.