Von Ferenc Almássy.
Die Annäherung zwischen China und Mitteleuropa gefällt bei weitem nicht allen. Von dem Wunsch beseelt, seine Zukunft in die Hand zu nehmen, versucht Mitteleuropa immer mehr seine Abhängigkeit als periphere Zone von Westeuropa zu vermindern und wendet sich daher unter anderem in Richtung China.
Sofia, Bulgarien – Zwischen dem 29. Juni und dem 7. Juli fanden in Sofia (Bulgarien) der 7. Gipfel der ost- und mitteleuropäischen Regierungschefs (16…) mit China (…+1) und das 8. Wirtschaftsforum China-MOEL (Mittel- und Osteuropäische Länder) statt. Die 16 europäischen Länder dieser Plattform sind Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, allesamt EU-Mitglieder sowie Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien.
„Die 16+1 Initiative ist keine geopolitische Plattform, sondern eine auf den Gesetzen des Marktes beruhende Win-Win-Zusammenarbeit,“ erklärten der Gastgeber des Forums, Ministerpräsident Bojko Borissow, bzw. der chinesische Ministerpräsident beruhigen wollend. „Manche sagen, das eine solche Zusammenarbeit die EU spalten könnte, aber es stimmt nicht,“ insistierte noch Li Keqiang. Trotzdem beunruhigt dieser 7. Gipfel der ost- und mitteleuropäischen Regierungschefs mit dem chinesischen Ministerpräsidenten im Westen des Kontinents bzw. in Brüssel.
Dieser Block der 16 erinnert sehr an den ehemaligen Ostblock, zumindest die Satellitenstaaten der UdSSR, die ein halbes Jahrhundert unter dem Kommunismus gelebt haben und somit politisch, kulturell und physisch vom Westen Europas getrennt wurden. Eine Trennung, die ein Vierteljahrhundert nach der „europäischen Wiedervereinigung“ im Rahmen des euro-atlantischen Blocks nachhaltig prägend wirkt. U.a. in der Migrantenfrage stehen zwei Blöcke mit antinomischen Visionen einander gegenüber. Und beide Blöcke sind durch eine klare Bruchlinie abgegrenzt, die derjenigen sehr ähnelt, die einst den Eisernen Vorhang abzeichnete.
China scheint aus der Existenz jener zweien Europas Kapital schlagen zu können bzw. es mindestens zur Kenntnis zu nehmen: indem es die wirtschaftliche Kooperationsplattform schuf, drängt China die Europäische Union zum Rang einer Drittpartei und begünstigt den direkten Dialog mit den Regierungschefs einer Region, die es für wirtschaftlich und politisch ziemlich homogen, zusammenhängend und einheitlich hält. Und vor allem hält es sie für einen wesentlichen Bestandteil seines Belt and Road Projekts.
Eine andere Version des Europa der zwei Geschwindigkeiten?
Während die ost- und mitteleuropäischen Länder gemeinsam haben, dass sie 50 Jahre lang unter dem Kommunismus litten, ist es doch nicht der einzige Punkt, der sie vereint. Im letzten Halbjahrtausend wurden der Balkan und Mitteleuropa ständig mit den deutschen, osmanisch/türkischen bzw. russisch/sowjetischen Imperialismen konfrontiert. Aus diesen schmerzlichen Erfahrungen ziehen alle Völker Mitteleuropas die gleiche Schlussfolgerung und organisieren sich während der jetzigen Friedensperiode, um ihre Unabhängigkeit zurückzuerlangen.
Mit dem Zusammenbruch der UdSSR und der Aufnahme der ost- und mitteleuropäischen Länder in den euro-atlantischen Block (EU, NATO, …) hat sich eine neuartige Situation etabliert. Während die 16 ost- und mitteleuropäischen Länder sich allmählich nach und nach der NATO anschloßen und Kriege ihren Antlitz verändert haben, schwindet die militärische Bedrohung. Und für diejenigen, die Mitglieder der EU geworden sind, bot sich eine historische Opportunität an: indem sie mit einer einzigen Stimme innerhalb der Institutionen der Union sprachen, konnten sie die Projekte ihrer westlichen Partner in Schach halten, ihre Themen auf dem Verhandlungstisch aufzwingen bzw. sogar die Waage zu ihrem Gunsten ausschlagen lassen. Das ist das, was die Erfahrung der Visegrád-Gruppe (V4) erfolgreich zeigen konnte.
Die V4 hat eben oftmals ein Europa der zwei Geschwindigkeiten beklagt. Während sie es erst dementierten, stehen die Deutschen und Franzosen nunmehr zu diesem Projekt und debattieren regelmäßig darüber: der harte Kern der EU will die Peripherie fallen lassen bzw. sie eher zu einer zweitrangigen Rolle innerhalb der Budgets und Entscheidungen verdrängen, was die V4 und die betroffenen ost- und mitteleuropäischen Länder anprangern.
Wenn es sich aber darum handelt, mit China für eine weitgehendere Entwicklung Mitteleuropas und des Balkans zusammenzuarbeiten, ohne dass der Westen mitreden dürfe, wäre man leicht dazu geneigt zu sagen, dass ein Europa der zwei Geschwindigkeiten die ost- und mitteleuropäischen Länder doch nicht allzu sehr bedrückt. Ein kurzer Überblick könnte zu dieser Schlussfolgerung führen, doch ist die Wirklichkeit etwas komplexer.
Wenn die ost- und mitteleuropäischen Länder die Gelegenheit beim Schopf ergreifen, so ist es auch, weil vor allem, trotz der Proteste der Deutschen und Franzosen, die ost- und mitteleuropäischen Länder nur 2% der chinesischen Investitionen innerhalb der EU erhalten. Ohne Überraschung werden die meisten chinesischen Investitionen bisher in Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien getätigt. Dagegen stellen die USA und Westeuropa 90% der Investitionen in den ost- und mitteleuropäischen Ländern dar.
Es handelt sich vor allem darum, die 16+1 Plattform zu benutzen, um die Lage wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Das zumindest ist der Standpunkt der Mitteleuropäer.
Starker Wille der ost- und mitteleuropäischen Länder bzw. Fehler der EU
Zahlreiche Experten sprechen von einem Ende des transatlantischen Handels, wie wir ihn bisher kannten. Donald Trump kritisiert seinerseits schroff die Europäische Union, während er selber protektionistische Maßnahmen trifft. Dagegen stellt sich China immer mehr als Vorkämpfer des freien Markts dar.
In diesem neuen und überraschenden Zusammenhang versucht Mitteleuropa aus der Beherrschung des geschwächten europäischen Kerns herauszukommen. So strebt die Drei-Meere-Initiative an, Transport- und Energieinfrastrukturen in Nord-Süd-Richtung in der Region zu entwicklen, während sie enger mit der USA zusammenarbeitet. Das ist es auch, was manche Länder dazu trotz des Standpunkts Brüssels und der europäischen Sanktionen zu einem Dialog mit Russland bzw. zu russischen Investitionen drängt. Und das ist eben auch der Grund dieser Öffnung in Richtung China.
Mitteleuropa, das nur schwer seinen Minderwertigkeitskomplex Westeuropa gegenüber überwindet, weiß, dass China ein Schlüsselelement seiner Emanzipation sein kann. Mit dessen Projekt einer Neuen Seidenstraße verfolgt China mehrere Ziele: einerseits hochqualitative Produkte zu importieren, um die explosionsartige Nachfrage seiner mittleren und oberen Schichten bedienen zu können, die von einem riesigen jährlichen Wachstum seines BIP (6,7% in 2016) aufgeblasen wird, und andererseits um zur weltweiten wirtschaftlichen Nummer Eins dank seinem kolossalen Projekt der Neuen Seidenstraße zu werden.
Dieses riesige Infrastrukturnetzwerk hat zum Ziel, ganz Eurasien und Afrika zu verbinden, um China einen direkten und kontrollierten Zugang zu 70% der Märkte des Planeten zu schaffen.
Für Mitteleuropa bedeutet das mehreres:
- Entwicklung wichtiger Infrastrukturen (Donau-Oder-Elbe-Kanal, Hochgeschwindigkeitszugstrecke Athen-Belgrad-Budapest, …)
- Verbindung mit der Haupthandelsroute der Welt und Herauskommen aus der europäischen Peripherie (Benutzung der Häfen von Piräus und Constanța um Hamburg und Rotterdam kurzzuschließen, …)
- Öffnung zu wichtigen Märkten für den Export (die ost- und mitteleuropäischen Länder sind weitgehend Agrarländer, deren Produkte zwar billiger als die der westlichen Länder sind, doch geniessen sie in China den Status der Marke „Europa“…)
Aus dem Standpunkt der EU heraus ist die Frage dagegen etwas komplexer. Die mit der Politik und den Erklärungen Trumps verbundene Unsicherheit bzw. die geographischen und historischen Verbindungen zwischen Europa und Asien lassen die europäischen Staatskanzleien zögern. Was die Frage des Irans betrifft, hatte insbesondere Frankreich versucht, die Position Washingtons milder zu stimmen. Doch ohne Erfolg.
Einen Tag vor dem EU-China-Gipfel – am gleichen Tag wie das Trump-Putin-Treffen – der am 16. Juli 2018 stattfand, erklärte der US-Präsident sogar, dass die Europäische Union sein „Hauptfeind“ im wirtschaftlichen Bereich, neben Russland und China, sei. Über diese Erklärungen hinaus zog Donald Trump sein Land aus dem Wiener Abkommen (iranisches Atomprogramm) und dem Pariser Übereinkommen (Klimaschutz) heraus. Und noch mehr: Donald Trump verhängte Strafzölle auf Stahl und Aluminium gegen die EU. Ohne über dessen Vorhaltungen den NATO-Mitgliedern gegenüber zu sprechen, die ihre Verpflichtungen bezüglich der Militärausgaben nicht einhalten.
Die EU hat also allen Grund, eine Öffnungspolitik gegenüber den Osten zu führen, doch die Schwäche des Brüsseler bürokratischen Apparats erreicht bald dessen Grenzen, wenn es um Geopolitik geht. Und dann ist es Deutschland, das als Staat reagiert.
Deutschland passt auf
Für Deutschland kommt es nicht in Frage, dass Mitteleuropa ihm entkomme. Nach dem Erstarken der Visegrád-Gruppe als regelrechte „Gewerkschaft des deutschen Hinterlands“, der Gründung der Drei-Meere-Initiative, die dessen Energieabkommen mit Russland bedroht, wird es langsam viel für Deutschland, dessen Wirtschaft großteils auf die Ausbeutung der billigen und hochqualifizierten Arbeitskräfte Mitteleuropas beruht.
Es ist zum Beispiel kein Zufall im Kalender, wenn Li Keqiang nach dem 16+1 Gipfel nach Berlin flog. Bei ihrem Besuch im Mai 2018 in Peking hatte Angela Merkel ihre Sorge gegenüber der beachtlichen Zunahme der chinesischen Investitionen und Projekte in Mitteleuropa und auf dem Balkan geäußert. Dermaßen, dass es erwähnt wurde, dass Deutschland sich dann als Drittpartei dem Verhandlungstisch der 16+1 Plattform anschließen könne (die dann 1+16+1 würde …?).
Manche Beobachter erklären, dass es aus den hier oben erwähnten Gründen im Interesse Deutschlands und Chinas liegen würde, gemeinsam für die Entwicklung der ost- und mitteleuropäischen Länder zu arbeiten. Aber wenn die Vermehrung der Infrastrukturen in der Tat den deutschen Unternehmern profitieren würde, würde die Erhöhung des chinesischen Kapitals in Mitteleuropa Berlin doch nicht gefallen wollen. Diese Verständigung scheint also sehr hypothetisch, während der deutsche Pragmatismus eher impliziert, dass das Interesse Deutschlands für die 16+1 Initiative mehr auf einen Willen beruht, die Region zu kontrollieren.
Der Markt verändert sich, China passt sich an
Lange Zeit wurde China als die Werkstatt der Welt betrachtet; jeder Europäer verband die Inschrift „made in China“ mit dem Begriff schlechter Qualität. Doch parallel zum Aufbau des Belt and Road Projekts – bzw. Neue Seidenstraße – hat China sich anzupassen gewußt. Schluß mit dem chinesischen Ramsch, her mit Bio und Hochtechnologie aus China.
Im Juni wurde ich von dessen Organisatoren zu einem kleinen Forum eingeladen, das die Provinz Jünnan ungarischen Journalisten und Investoren präsentierte. Das vertrauliche Ereignis hatte zwar nur geringen Erfolg, doch immerhin sind die Ziele ambitioniert: China will sich einen bedeutenden Anteil aus dem Markt der Bioprodukte in Europa erkämpfen und Mitteleuropa könnte als erstes davon profitieren. Die Provinz Jünnan, eine Region von Hochebenen mit einem paradiesischen Klima, ist nicht industrialisiert und daher auch nicht verschmutzt worden, wie dies in vielen Regionen Chinas der Fall ist. In Konsequenz wird China diese Provinz benutzen – wo das außergewöhnliche Klima zwei bis drei Ernten pro Jahr ermöglicht – um massiv qualitative Lebensmittelprodukte wie Tee, Kaffee bzw. exotische Früchte zu erzeugen.
Der Entwicklungsplan für Jünnan ist ein gutes Beispiel für die chinesische globale Strategie. China will ihre Produktion diversifizieren, mehr Märkte erreichen und, wie hier oben erwähnt, ihre Importe steigern, um die größer werdenden Erwartungen seiner vermögenden Mittelschichten zu befriedigen, die demographisch schnell am Wachsen sind.
Was die erneuerbaren Energien betrifft, hat China ebenfalls vor, seinen Rückstand wettzumachen. Wie Emmanuel Dupuy es im Magazin Atlantico erklärt: „die Hälfte der weltweit verkauften elektrischen Fahrzeuge kommt aus China, 15 % der in China fahrenden Autos sind nach wie vor elektrisch. China produziert 1400 TWh Strom (während die USA nur 530 TWh produzieren) dank seinen massiven Investitionen in die erneuerbare Energien (u.a. im Bereich Sonnenenergie, wo China die meisten Solarkollektoren und Windkraftanlagen weltweit produziert)“.
Ist also die Neue Seidenstraße eine gute oder eine schlechte Sache?
Von einem mitteleuropäischen Standpunkt heraus ist die Neue Seidenstraße eine sehr interessante Perspektive. Es ist auch kein Zufall, wenn alle 16 ost- und mitteleuropäischen Länder der Einladung Chinas positiv geantwortet haben. In einer immer mehr multipolar werdenden Welt und aufgrund der steigenden Spannung mit der anderen Hälfte des europäischen Kontinents, die in einem tödlichen Liberalismus verstrickt ist, ist die steigende Involvierung Chinas, das Infrastrukturen entwickelt und frisches Geld nach Mitteleuropa bringt, eine gute Sache. Für Mitteleuropa wird die Integration in das Projekt der Neuen Seidenstraße nicht ohne Konsequenzen sein. Die Anpassung des Westens zu dieser neuen Lage sollte man auch ganz genau beobachten. Vergessen wir nicht, dass das Treffen der Könige Polens, Böhmens und Ungarns in Visegrád im 14. Jahrhundert – von dem der Name Visegrád-Gruppe für die 1991 zwischen Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn begonnene Kooperation stammt – vor allem stattfand, um eine Lösung für die Nutzung des Stapelrechts durch Wien zu finden.