Gheorghe Piperea: „In Rumänien fangen die Leute an, euroskeptisch zu werden“.
Im November 2017 hat Raoul Weiss den rumänischen Anwalt und Insolvenzrechtsexperte Georghe Piperea – damals Wirtschaftsberater des rumänischen Ministerpräsidenten – in Bukarest für die Visegrád Post interviewt. Herr Piperea erwähnte dabei die Verstellungen der Korruptionsbekämpfung und der Massendemonstrationen, die die letzten Jahre des öffentlichen Lebens in Rumänien gekennzeichnet haben. Er erklärte ebenfalls die Straffreiheit der in Rumänien ansäßigen internationalen Konzerne, insbesondere im Bankwesen, dem Expertenbereich von Herrn Piperea.
Raoul Weiss: Herr Piperea, danke, dass Sie uns in ihrer Kanzlei hier in Bukarest empfangen, um die Fragen von TV Libertés und der Visegrád Post zu beantworten. Sie sind ein im Insolvenzrecht spezialisierter rumänischer Rechtsanwalt. Diesen Sommer [2017] wurden Sie zum ehrenamtlichen Berater von Ministerpräsident Mihai Tudose ernannt; im Laufe der vorigen Monate machten Sie sich durch öffentliche Stellungnahmen u.a. bezüglich des Bankrechts bekannt.
In Europa wird derzeit die öffentliche Wahrnehmung Rumäniens weitgehend durch die Meinung einer rumänischen protestierenden Minderheit wahrgenommen, die die ausschließliche Gunst der internationalen Presse genießt; daher wird sie durch den Leitmotiv der institutionalisierten Korruption beherrscht – von der man gewöhnlich davon ausgeht, dass sie vor allem den Staat betrifft. In dieser Wahrnehmung scheint im Gegenteil die rumänische Gerichtsbarkeit über ein tadelloses Image zu verfügen. Allerdings findet man an der Seite der Protestierenden einige der in Rumänien ansässigen westlichen Banken (wie z.B. die Raiffeisenbank), die diese Bewegungen sehr oft finanziell unterstützen. Die Gerichtsbarkeit und die Banken wären also das „Lager des Guten“, während der Staat völlig korrupt wäre: welche Kommentare ruft bei Ihnen diese Vision der gegenwärtigen Situation hervor? Denken Sie, dass sie der Wirklichkeit entspreche?
Gheorghe Piperea: Nein, überhaupt nicht. Ich möchte Ihnen vorerst sagen, dass wir uns leider seit über drei Jahren ausschließlich oder zumindest exzessiv auf einen kleinen Teil der Gerichtsbarkeit fokussieren, der übrigens so wirksam ist, wie alle Diskussionen und Lobby-Aktionen es denken lassen könnten, denen wir diesbezüglich in Rumänien wie im Ausland – einschließlich vor der Europäischen Kommission – beiwohnen.
Es handelt sich um ca. 10.000 Akten, die von zwei spezialisierten Staatsanwaltschaften bearbeitet werden: Die Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft und die Staatsanwaltschaft, die sich mit Wirtschaftskriminalität beschäftigt. Allerdings beschränkt sich die rumänische Justiz nicht auf 10.000 Verfahren. Gerade jetzt, wo wir miteinander reden, sind über drei Millionen Akten bei den Gerichten anhängig und 95% davon betreffen irgendwie Handelsgesellschaften.
Das Zweite, was ich vorab sagen wollte, ist folgendes: Wenn wir von Korruption sprechen, handelt es sich um eine ambivalente Handlung – damit es einen Korrumpierten gibt, braucht es einen Korrumpierer. Damit einer Vorteile gewährt, braucht es einen, der die Vorteile kauft.
Doch sind die Korrumpierer und die Vorteilekäufer selbstverständlich Leute, die über viel Geld verfügen und entschlossen sind, ihre Interessen zu verteidigen. Das machen sie, indem sie Privilegien oder privilegierte Positionen kaufen, die ihnen ermöglichen, „dem Staat im voraus“ zu sein – das, was die Amerikaner „front-running“ nennen –, oder indem sie solche Privilegien behalten. Wir werden auf diese Frage des Behaltens bzw. des Konsolidierens solcher Privilegien zurückkommen, da sie bestimmte Banken erwähnt haben. Es gibt also keine Bestechung ohne Bestecher.
Was derzeit in Rumänien stattfindet, führt zu einer schändlichen Situation aus dem Standpunkt des Rechts. Da wird mit zweierlei Maß beurteilt:
- einerseits geht man – wenn auch nicht immer wirksam – ziemlich hart gegen die Korrumpierten vor;
- andererseits geht man eher lasch und frivol gegen die Korrumpierer vor, die – mit der Bedingung, dass sie zu Denunzianten werden – der gesamten Strafe, die sie verdienen, entgehen können – während sie freilich sämtliche Privilegien behalten können, die sie gekauft oder konsolidiert haben.
Was die Korrumpierer betrifft, die das Glück haben, große Unternehmen zu sein – vor allem internationale Konzerne – da lässt man sie vollkommen in Ruhe.
In Frankreich oder in Großbritannien z.B. hat man nicht davor zurückgeschreckt, gegen Airbus, ein Riesenunternehmen, vorzugehen, das der Bestechung bezichtigt wurde (bezüglich von Flugzeugen, die es 2010 den Chinesen durch einen Makler verkauft hatte, dem es die versprochene Provision nicht bezahlt habe, und da Letzterer gegen das Unternehmen vor Gericht ging, entdeckte man, dass dieses eine schwarze Kasse unterhielt, um solche Provisionen zu zahlen).
In Rumänien, wenn es sich um Microsoft, Monsanto oder andere Firmen wie EADS – die gerade die Muttergesellschaft von Airbus ist – handelt, gibt es entweder keine Untersuchung oder dauern die Ermittlungen jahrelang und werden systematisch vorzeitig beendet, damit sie, was das Business betrifft, ohne Konsequenzen bleiben.
Ich mache hier eine Zwischenbemerkung über eine Einzelheit, die mich umso mehr irritiert, dass sie unseren Staatspräsidenten betrifft, dem es eigentlich obliegen sollte, die Verfassung beachten zu lassen, auch in Bezug auf die Unschuldsvermutung.
Wenn man von Korrumpierten spricht und der Staatschef die Bezeichnung „strafrechtlich“ in Bezug auf Politiker benutzt, die strafrechtlich nicht (oder noch nicht) verurteilt wurden, dann heißt das, dass es die Unschuldsvermutung für Politiker nicht mehr gibt – im Gegenteil könnte man von einer Schuldsvermutung sprechen.
Während es sich aber um große Unternehmen handelt – die Besitzer des Großkapitals –, sehen Sie wohl, wie man in Rumänien Geschäfte macht: Das rumänische Bruttosozialprodukt wird zu 85% – vielleicht sogar 90% – von den 100 größten in Rumänien ansässigen Firmen erwirtschaftet, die sich – bis auf fünf oder sechs Ausnahmen – nicht im Besitz von inländischen Gesellschaften befinden.
So macht man Geld bei uns, und zwar viel Geld, dank Privilegien und Monopolsituationen. Allerdings bestehen diese Privilegien in dem quasi ausschließlichen Recht, Verträge mit den Staatsbehörden abschließen zu können.
Wenn gegen diese Art von Unternehmen strafrechtlich ermittelt wird, dann sollten sie von öffentlichen Ausschreibungen ausgeschlossen werden, wie dies in den USA, in Australien, in Kanada, in Frankreich, in Italien, in Deutschland oder in Großbritannien der Fall ist.
In Rumänien tut man das nicht, ganz im Gegenteil: Hier betrachten diese Unternehmen – mit dem stillschweigenden Einvernehmen der rumänischen Behörden, die sich bezüglich dieser Privilegien sehr schwach bzw. allzu tolerant zeigen –, dass sie über ein heiliges Recht auf Profit verfügen, sei es um den Preis von unlauteren Praktiken, über die wir später sprechen werden.
Ich beende meine Zwischenbemerkung, um auf die Korrumpierten zurückzukommen. Und hier ist das dritte Element, das ich in unserem Gespräch erwähnen möchten. Für mich als rumänischer Bürger liegt es in meinem Interesse – und zwar zutiefst –, dass dieses Phänomen der Korruption ausgemerzt, neutralisiert und vernichtet werde.
Es liegt in meinem Interesse – und wenn es zu diesem Thema kommt, spreche ich das mit sehr harten Worten –, dass die Korrumpierten – ungeachtet ihres Einflusses in der Politik – möglichst rasch bestraft werden, und zwar ohne unnötige Kosten zu verursachen.
Was geschieht aber in der letzten Zeit? Von zehn Korruptionsaffären werden mindestens sechs mit einem Freispruch oder mit Verurteilungen auf Bewährung beendet, was bedeutet, dass der Verurteilte bei sich zu Hause bleibt und nach wie vor das Geld genießt, das er gestohlen hat; ob er Politiker oder Geschäftsmann sei, spielt keine Rolle: Er bleibt zu Hause und genießt dieses Geld, das er mir und Ihnen gestohlen hat.
Das zweite Phänomen, das man bemerkt, ist, dass es sich um Fälle handelt, die 15 Jahre oder älter sind, die man aus dem Müll zurückholt, während – außer für Verbrechen – jede Straftat nach 15 Jahren verjährt sein müsste. Das alles ist bloß eine Show: Eine Affäre 15 Jahre lang in der Schublade zu behalten, bedeutet, dass man kolossale Summen für eine Akte ausgibt, die zu einem Freispruch führen wird. Und erwähnen wir noch einen besonders störenden Aspekt: Diese Korrumpierten, diese Leute, die [missbräuchlich] mit dem Worte Korruption stigmatisiert wurden, werden von ihren Straftaten weiß gewaschen und kommen zurück, um zu sagen, dass sie unschuldig sind, dass sie Opfer von [juridischem] Missbrauch wurden, und ihre echten Straftaten, die echten Fakten, werden versteckt sein und niemand wird sich mehr dafür interessieren.
Nach einer Weile fragt man sich, ob dieser Kampf [gegen die Korruption], ob diese ganze Agitation keine Inszenierung mit ihrem „good cop“ und ihrem „bad cop“ sei, die fast immer (mindestens in 60% der Fälle) zur Weißwaschung der Sünden der Korrumpierten führt.
Ich habe den Eindruck, dem Ablauf eines Szenarios beizuwohnen, das darüber hinaus mit zweierlei Maß gegenüber den großen Unternehmen urteilt. Niemals werden Sie sehen, wie man die Manager von Microsoft, von EADS, von Siemens, von Monsanto usw. mit Handschellen vor laufenden Fernsehkameras abführt – ein Verfahren, das übrigens von den europäischen Weisungen über die Unschuldsvermutung verboten wird. Sie werden nicht strafrechtlich verfolgt – denn „das macht man nicht“. Schlimmstens werden sie durch die Diplomatie rehabilitiert: Ihr Botschafter meldet sich zu Wort und sagt uns: „Pass auf, Du schadest unseren Handelsinteressen!“
Dieses zweierlei Maß stört mich, weil ich an die Demokratie, an die Chancengleichheit, an die Gleichheit vor dem Gesetz glaube, egal ob Politiker oder Oligarch, Steuerinländer oder Expat… Alle müssen den gleichen Gesetzen, den gleichen Normen unterstellt werden. Zweierlei Maß führt uns in eine extrem gefährliche und extrem glatte Zone, wo die Leute anfangen, sich zu fragen, ob das, was sie sehen, wirklich ihr demokratischer Traum sei, ob dies alles wirklich dieses Europa sei, von dem wir all die Jahre geträumt haben.
Und viertens sprachen sie von den Banken, die – sei es bloß durch ihre Anwesenheit – diese Antikorruptions-Bewegung finanziell unterstützen. Selbstverständlich darf jeder demonstrieren und für alles demonstrieren, das ist das Prinzip der Demokratie – und jeder hat sogar das Recht sich absolut zu irren, was vielen passiert, deren Informationsquellen Plakate und Hashtags sind. Es ist ihr Recht und gewissermaßen begrüße ich sogar, dass sie auf die Straße gehen, um ihre Stimme hören zu lassen – sei diese Stimme auch so laut und schrill.
Das Problem ist das, was sich hinter diesen Demonstrationen verbirgt. Wenn ich in der Menge die Vertreter von manchen Banken erblicke, die in Rumänien viele Sünden auf dem Gewissen haben – nicht ich sage das, sondern die rumänischen Gerichte, die rumänischen Behörden, der rumänische Fiskus –, dann kann ich nur daraus schließen, dass es sich um eine Operation nach außen und Public Relations handelt, die dazu dienen, soweit möglich das Image dieser Unternehmen zu polieren bzw. unangenehme Sachen zu verstecken.
Dieser Herr, von dem wir sprechen [Steven van Groningen], der an den Demonstrationen teilgenommen hat, – der Präsident der Raiffeisenbank Rumänien –, wurde im Juni 2016 vom Obersten Rat der Gerichtsbarkeit wegen sehr schwerer Delikte sanktioniert, was die Riesenfirma, die ihn beschäftigt, dazu hätte bringen sollen, ihn dringend zu entlassen, denn dies stellt einen unannehmbaren Fleck für das Image dieses Unternehmens dar. Dieser Herr, der mit den Gerichtsentscheidungen konfrontiert wurde, die ihn zur Zahlung von Entschädigungen aufgrund von missbräuchlichen Klauseln in Verträgen, von betrügerischen Praktiken, Manipulationen und irreführender Werbung verurteilten, erklärte, dass die betroffenen Gerichte inkompetent seien, dass deren Meinung falsch sei und dass er unbedingt vor den Kassationshof in Berufung gehen muss, denn „mindestens vor diesem Gerichtshof können wir hoffen, mit kompetenten Richtern zu sprechen“.
Der oberste Rat der Gerichtsbarkeit hat ihn wegen der Verletzung der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit und übler Nachrede gegen die Justiz sanktioniert, da er die gesamte Gerichtsbarkeit lächerlich zu machen versuchte, und zwar aus dem einfachen Grunde, dass er mit deren Entscheidungen nicht einverstanden war.
Und heuer wiederum wurde diese gleiche Bank von der nationalen Behörde für Konsumentenschutz in flagranti erwischt, die nicht zufällig ermittelte, sondern auf in der Presse erschienene Artikel bzw. manche interne Dokumente der Bank reagiert hatte, die online gestellt wurden und seitdem die Raiffeisen-Leaks genannt werden –, und die im Jahre 2007 den Angestellten der Bank bis ins kleinste Detail erklärten, wie sie diese Verträge von vornherein aufbauen sollten, die einen Betrug gegenüber den Konsumenten darstellen, die Frankenkredite aufnahmen. Sie haben mich verstanden? Im Laufe dieser Affäre stellte sich ganz genau heraus, dass diese Menschen von A bis Z betrogen wurden.
Vor ungefähr einem Monat haben zwei Nobelpreisträger in Wirtschaft, George Akerlof und [Robert] Shiller ein Buch auf Amazon veröffentlicht mit dem Titel „Phishing for Fools – Manipulation und Täuschung in der freien Marktwirtschaft“. Sie zeigen darin, wie diese Verträge, ab dem Moment, wo sie konzipiert wurden, durchsetzt sind von Fallen, die ganz speziell gedacht sind, damit man in die Falle tappe, egal was man tue, um einen zu fangen, indem einem am Anfang der Eindruck gegeben wird, dass die Schuld ein Vorteil sei, auf Pump zu konsumieren ein Genuss sei, damit man dann nach einem Jahr entdecke, dass man sich eigentlich ruiniert habe.
Und genau das ist es, was die nationale Behörde für Konsumentenschutz im Falle dieser Bank festgestellt hat. Ein rumänisches Sprichwort sagt: „Der Dieb schreit ,Haltet den Dieb!ʼ“ Auf die Straße gehen und sagen, dass man die Korruption bekämpft, wäre das nicht zufällig eine Deckung für ihre eigenen betrügerischen, unanständigen, manipulativen und lügnerischen Praktiken?
Und um meinen Gedankengang abzuschließen: Es gibt zwei weitere – und vielleicht sogar vier – Banken, die heuer vom rumänischen Fiskus kontrolliert und bei denen es entdeckt wurde, dass sie Gewinne versteckten und zwar unter der Form von Verlusten in Verbindung mit buchhalterischen Operationen über Kredite mit schlechter Rendite mit Offshore-Gesellschaften usw. Eine Geschichte, die die Franzosen sehr wohl kennen sollten, da es vor kurzem davon in einem Bericht bezüglich der GAFA [Google, Apple, Facebook, Amazon] die Rede war. Eine dieser Banken hat beinahe 200 Millionen Euro als Kompensation für fünf Jahre „Fiskaloptimierung“ zahlen müssen.
Sie hat sie bezahlt, um nicht gepfändet zu werden. Doch sie behauptete, dass das, was ihr geschieht, völlig ungerecht sei, und dass sie überlege, gegen den rumänischen Staat vor Gericht zu gehen usw.
Freilich stellt niemand ihre Rechte in Frage. Aber meiner Meinung nach, was das image angeht, wenn man sich selbst als großer Kämpfer gegen die Korruption darstellt, während man eigentlich der Steuerhinterziehung und der Geldwäsche – denn diese Summen über Offshore-Gesellschaften verschieben ist Geldwäsche – sprich der organisierten Kriminalität schuldig ist, kann man davon nur ein äußerst schlechtes Image bekommen, was der Grund dafür ist, dass die Banken derzeit zu den Institutionen gehören, die in Europa wie in Rumänien am meisten gehasst werden.
Derzeit können die Menschen den Banken nicht entkommen, da der rumänische Staat (wie viele anderen) das begangen hat, was ein Fehler – wenn nicht gar eine Dummheit – zu sein scheint, indem er ihnen immer mehr Monopole gewährte. Derzeit z.B. ist es nicht mehr möglich, sein Gehalt anders zu beziehen als durch ein Bankkonto, das mit einer Bankomatkarte verbunden ist. Es ist bloß ein Beispiel unter vielen, aber es gibt unendlich viele davon.
Gerade jetzt wo ich mit ihnen rede, haben z.B. die Einwohner Rumäniens – ich kenne die Lage für Ungarn nicht – über 40 Milliarden Euro auf ihren Bankkonten. Die dafür von den Banken bezahlten Zinsen sind absolut gering: zwischen 0,2% und 0,3%, und wenn man versucht, diese Summen abzuheben, dann gibt es Abhebungsprovisionen, die letztendlich dazu führen, dass die Zinsen negativ sind.
In der Praxis zahlen Sie also an die Bank und nicht die Bank an Sie dafür, dass Sie ihr ihr Geld überlassen, während sie dieses Geld benutzt hat, um Kredite zu gewähren! Und das obwohl – passen Sie gut auf was ich Ihnen jetzt sage, denn dies stellt eine Kritik an die Europäische Union selbst dar – eine Bank, die finanzielle Schwierigkeiten hat, die Guthaben ihrer Kunde – das Geld auf unseren Konten – konfiszieren kann, um sich zu retten!
Und das ist in der Tat die Konsequenz einer EU-Richtlinie. Die EU hat den Banken den Vorrang gegeben – denjenigen, die die Krise verursacht haben, in der wir uns befinden, und die nicht davor zurückschrecken, wenn es sich darum handelt, die Güter einer Privatperson oder eines Unternehmens zu beschlagnahmen und diese in den Ruin zu treiben. Diese Banken wiegen nunmehr schwerer als ganze Nationen – denn wenn wir über 40 Milliarden Euro sprechen, wenn wir über eine ganze Nation, deren Geld sich auf Bankkonten befindet – auf über 10, vielleicht sogar 12 Millionen Bankkonnten.
Raoul Weiss: Sie haben gerade einige Fälle erwähnt – man möchte fast sagen: glückliche Fälle – in denen die rumänische Jurisprudenz immerhin den Opfern Recht gegeben hat (seien es Privatleute oder der rumänische Fiskus, dem durch diese Praktiken der Fiskaloptimierung geschadet wurde). Doch indem ich ihre Veröffentlichungen verfolgte, habe ich auch irgendwo einen äußerst interessanten Vergleich bemerkt zwischen einigen Jurisprudenzen – so z.B. in Spanien – und der Praxis in Rumänien, die erscheinen lassen, dass diese Banken sich in Rumänien (wie einst in Ungarn und allgemein im postkommunistischen Europa) Praktiken erlauben, die in Westeuropa verboten sind. Wenn man also an die neulichen Aussagen von Emmanuel Macron und anderen Regierungsparteien in Frankreich und Deutschland über das Europa mit zwei Geschwindigkeiten zurückdenkt, kann man sich schon fragen, ob es dieses Europa der zwei Geschwindigkeiten – zumindest im Bank- und Justizwesen – nicht schon gibt?
Gheorghe Piperea: Das ist meiner Meinung nach eine sehr irritierende Sache. Sie aben gerade den Finger dort gelegt, wo es weh tut. Ich bin es, der im Februar 2017 vor dem Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg die Causa namens „Andriciuc gegen Banca Românească“ verteidigt habe, in der äußerst wichtige Entscheidungen bezüglich der Beziehungen zwischen Konsumenten und Banken gesprochen wurden. Es handelt sich im Wesentlichen die Informations- und Warnpflicht über die eingegangenen Risiken.
Es handelt sich um den das Verbot für die Banken, uns wie die Dummen zu prellen. Wir sprechen hier von Banken, die die Pflicht hätten, uns vor den Risiken zu warnen, die wir eingehen, wenn wir einen Kredit abschließen. Die uns beraten sollten und uns erklären sollten, was zu tun, was zu vermeiden, auch wenn es für sie dazu führt, einen Vertrag zur verpassen, und das, weil sie sich dadurch selbst schützen, denn es liegt im eigenen Interesse der Bank.
So können sie vermeiden, dass es 10 Tausende wenn nicht 100 Tausende von diesen Verträgen gäbe, die ich meinerseits „Vertragsmüll“ nenne.
Mangels solcher Orientierungen und solcher Warnungen unterschreiben die Leute aus der Überzeugung, dass sie gerade einen billigen und risikofreien Vertrag abgeschlossen haben, während sie in Wirklichkeit einen Vertrag einer ganz anderen Natur unterzeichnet haben, was in der Praxis bedeutet, dass besagter Vertrag von Anfang an Müll ist und sich zu einer riesigen Last für die Bank entwickeln wird.
Ein einziger Vertrag dieser Art stellt schon an und für sich ein Insolvenzrisiko dar – multiplizieren Sie dies also durch 100 Tausende von Verträgen und Sie werden das Gesamtrisiko einschätzen können. Das ist das, was der Gerichtshof der Europäischen Union mir im Fall Andriciuc gesagt hat: Die Informationspflicht ist eine äußerst wesentliche Pflicht, und wenn sie nicht respektiert wird, dann sollen diese Verträge entweder insgesamt oder mindestens in deren Klauseln, die z.B. die Wechselrisiken oder die Risiken bezüglich der Entwicklung der Raten betreffen, als null und nichtig betrachtet werden.
In Rumänien jedoch, mindestens ab dem 20. September 2017 – der Tag an dem die Begründung dieses Urteils veröffentlicht wurde (das Urteil wurde im Februar 2017 gesprochen, doch wurde die Begründung erst im September des gleichen Jahres veröffentlicht) –, haben alle rumänischen Gerichte die Rekurse abgewiesen und diese Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vollends ignoriert.
Und das ist bloß „le premier volet“ [der erste Teil], denn inzwischen haben wir Zeichen von den Franzosen, von den Polen, von den Ungarn – sogar von den Serben –, und neulich gab es ein Urteil des Obersten Gerichts in Spanien, das in einer Begründung von mehr als 50 Seiten, 12 bis 13mal auf den Fall Andriciuc hinwies und ihre Entscheidung, die Wechselkurse einzufrieren mit dem Präzedenzfall Andriciuc begründet hat.
Allerdings ist es im spanischen Fall von einer Fluktuation des Yen/Euro-Kurses die Rede, da es sich um einen Kredit in japanischem Yen handelt – und der Yen, muss man anerkennen, ebenfalls eine exotische Währung für die Europäer ist – und die Kursvariation 50% nicht überstieg.
In Rumänien erreichen diese Variationen zwar 200%, doch hat man deswegen nicht betrachtet, dass dies ein Risiko darstellen würde bzw. dass die Bank Unrecht hätte.
Und dabei hat man auch noch nicht erwähnt, dass es sich in Spanien um eine sehr große Bank, die Barclays, die dritt- oder viertgrößte Bank der Welt, handelte, was den Obersten Gericht Spaniens doch nicht erschreckte.
Während die rumänischen Gerichte uns sagen: „Wenn diese Banken verschwinden… – obwohl diese Banken pleite sind: Mindestens zehn von ihnen sind insolvent, seit langem tot und begraben, und werden allein von Herrn Isărescu [dem Vorsitzenden der Nationalbank Rumäniens] noch durch Infusion und künstliche Beatmung am Leben gehalten –… dann wäre es für unser Wirtschaftssystem und für die Depositen gefährlich.
In Wirklichkeit entspricht es aber einer ganz anderen Motivation und Sie werden sehen, dass diese äußerst beunruhigend ist und ganz Europa in höchstem Maße beunruhigen sollte.
Vor ungefähr zwei Jahren haben die Nationalbank Rumäniens und das Nationale Institut der Gerichtsbarkeit vier oder fünf Fortbildungsseminare für die Richter organisiert, die solche Fälle (zwischen Banken und Konsumenten) zu urteilen hatten, darunter Fälle von missbräuchlichen Klauseln und ganz besonders was das Einfrieren der Wechselkurse betrifft – und sie luden nicht irgendwelche Richter ein, sondern ganz genau diejenigen, die diese Art von Fällen zu urteilen hatten.
Hier finden wir diese „spezialisierten Instanzen“, von denen Herr van Groningen [der Vorsitzende der Raiffeisenbank in Rumänien, NdR] sprach. Allerdings wurde dieser Unterricht nicht von unabhängigen Persönlichkeiten erteilt; es wurden weder Konsumentenschutzvereine noch Anwälte von Konsumenten dafür eingeladen. Die Seminare wurden von Mitgliedern der Direktion der Nationalbank Rumäniens und unter anderem von Herrn Isărescu selber moderiert.
Unter den Ausbildern fand man sogar einen ehemaligen Vize-Gouverneur der Nationalbank Rumäniens, Herrn Bogdan Olteanu, der derzeit in einem großen Strafprozess involviert ist, verhaftet und lange Zeit unter Hausarrest gestellt wurde – stellen Sie sich vor! Es ist ein äußerst ehrenwürdiger Herr, der da vor den Richtern auftrat – der eigentlich vielmehr tat, als bloß vor ihnen aufzutreten: Er bildete sie aus und erklärte ihnen, wie sie in diesen Fällen gegen die Interessen der Konsumenten zu urteilen hätten.
Einige dieser Richter haben dann eine Weile ihre Unabhängigkeit bewahrt und haben weiterhin negative Urteile gesprochen – was erklärt, das es immerhin 20% von Urteilen zugunsten der Konsumenten gibt, und die übrigen 80% zugunsten der Banken sind –, aber die wichtigsten unter ihnen – diejenigen, die einen Ruf als Meinungsführer genießen – sind aus diesen Seminaren mit der Überzeugung herausgekommen, dass diese Art von Klagen abgewiesen werden müssen, da sie den sogenannten „monetären Nominalismus“ beeinträchtigen würden.
Ich komme jetzt nicht in die Details hinein, die ziemlich technisch sind, aber ich möchte von vornherein erwähnen, dass es sich um eine völlig falsche Theorie handelt, wie der Gerichtshof der Europäischen Union es im Fall Andriciuc erklärt hat.
Trotz allem – und trotz der besonders drastischen persönlichen Sanktionen, denen die Richter sich aussetzen, die die Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union ignorieren, und der Sanktionen, denen der rumänische Staat sich aussetzt –, das, was am Schwerwiegendsten war, sind die Gedanken, die den Richtern kryptisch, wie eine unterschwellige Botschaft und die bei diesen Seminaren geschafften Bräuche vermittelt wurden.
Wie uns es die Psychologie der Manipulation lehrt, wenn eine Verpflichtung von Anfang an vereinbart wurde, neigt man dazu, diese zu respektieren, auch nachdem man unterwegs wahrgenommen habe, dass sie nicht richtig sei. Darüber hinaus gibt es sogar Richter, die davon überzeugt sind, dass es ihre eigenen Ideen sind und dass sie nicht auf geheimen Wegen unterschwellig vermittelt wurden, von denen sie gar nichts ahnten.
Ein von diesen in den Villen von Sinaia, die der Nationalbank gehören, organisierten Seminaren ist mehr als ein bloßer Seminar: Es ist auch ein Abendessen mit einem Glas Wein – aus den Weinbergen von Herrn Isărescu –, bei dem allerlei stattfindet, und wenn man sich gegenüber dem Gouverneur der Nationalbank befindet, ist es für ihn bei weitem einfacher, einen von der Richtigkeit seinen Standpunkt zu überzeugen – eine Richtigkeit, die jedoch aus Prinzip nicht von der subjektiven Wahrnehmung der einen oder anderen Partei abhängen sollte.
Ich meine damit die Bankiers, die in diesem Fall die Verteidigerpartei darstellen, – doch die Justiz sollte objektiv sein. Und letztendlich ist der Richter auch ein Schiedsrichter, der für niemanden Partei ergreifen, sondern gemäß Gesetz und Gerechtigkeit urteilen sollte.
Allerdings hat man es so weit gebracht, sich in den Kopf und in die Mentalität dieser Leute einzuschleichen, dass sie es sogar geschafft haben, die anderen zu überzeugen, denn in dem Moment wo wir sprechen sind sogar die „Dissidenten“ – diejenigen, die vor einem oder zwei Jahren noch Urteile zugunsten der Konsumenten sprachen – alle ins gegnerische Lager übergelaufen und sprechen nun keine Urteile dieser Art mehr.
Und das, wiederhole ich, obwohl in ganz Europa – ich rede nicht nur von Ungarn, das eine eigene Jurisprudenz gemacht hat, z.B. 2014 mit dem Fall Kásler, der eine Revolution in diesem Bereich darstellte, nicht nur von der Slowakei, von Tschechien, von Polen oder von Slowenien, die sehr viele Probleme in Verbindung mit dem Franken haben, die noch schlimmer sind als unsere: Hier denke ich auch an Spanien, an Frankreich, und sogar an Serbien – das nicht Mitglied der Europäischen Union ist. Eine ähnliche Praxis verbreitet sich, die auf eine Jurisprudenz beruht, deren Quelle sich eben hier in Rumänien befindet – in Rumänien, wo die Richter diese Jurisprudenz Andriciuc völlig unnütz finden, als ob sie nichts Neues brächte.
Und zum Schluss sind die vorgesehenen Sanktionen drastisch; ich möchte keine Panik erzeugen, ich tue nur aus dem Gesetz zitieren. Im Falle einer unmittelbaren Verletzung einer Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union durch einen Richter, kann der Oberste Rat der Gerichtsbarkeit eben diesen Richter sanktionieren, und zwar auch damit, dass er aus dem Beruf ausgeschlossen werde. Andererseits, wenn die rumänische Justiz Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Union ignoriert, kann es dazu führen, dass sie selber vor den Gerichtshof muss, um sich dafür zu verantworten, eventuell unter der Form einer Prozedur des Infringements [Rechtsverletzung], doch kann auch dieser Prozess in Rumänien stattfinden, wo die Beschädigten eine Entschädigung verlangen können.
Der Bereich, von dem wir reden, befindet sich also in einer Dimension, in der es scheinen würde, dass die vor sechs oder sieben Monaten von Herrn Juncker aufgeworfene Idee, die dann halbherzig von Frau Merkel unterstützt wurde, bevor sie einigermaßen Macron widersprochen wurde – ich verstehe Macron nicht, ich sehe nicht wirklich, was er machen will –, braucht dieses Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten gar nicht mehr offizialisiert zu werden, denn in Wirklichkeit gibt es sie schon defacto.
Von dem Tag an, wo man entschieden hat – im Widerspruch, meiner Meinung nach, mit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union –, dass man Griechenland „retten“ würde, in dem man es noch tiefer in die Verschuldung drücken würde, um Banken zu retten, die unvernünftige Investitionen realisiert hatten, während sie sehr wohl wussten, was sie taten – an diesem Moment dieses Europa der zwei oder drei Geschwindigkeiten schienen; in diesem Verfahren allerdings wurde Rumänien selbstverständlich ebenfalls in die zweite bzw. in die dritte Geschwindigkeit gesetzt.
Es könnte sogar sein, dass Rumänien noch peripherer sei als Ungarn, was die europäische Integration betrifft, denn Rumänien und seine Bürger haben dort nur Pflichten, während was ihre Rechte betrifft… wird man später sehen.
Ich sage nicht, dass Orbán Recht hat, das zu tun, was er tut, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, indem er sagt, dass wir Europa nicht mehr brauchen – es ist eine falsche Lösung. Das Problem ist anders: Um ein vereintes Europa zu haben, brauchen wir Bürger, die alle die gleichen Rechte haben. Es genügt nicht, dass sie alle die gleichen Pflichten haben. Sie müssen auch gleich sein, was die Rechte anbelangt. In einer Demokratie sind zweierlei Maße das Skandalöseste und auch das Gefährlichste.
In Rumänien fangen die Leute an, euroskeptisch zu werden – eine noch nie dagewesene Entwicklung in der gesamten Geschichte unseres Beitritts zur Europäischen Union –; darüber hinaus fangen die Leute an zu sagen, dass es besser wäre, wenn wir ein autoritäres Regime hätten. Sie haben begonnen, Orbán zu loben, der ihnen ein „starker Mann“ zu sein scheint, oder sogar Putin zu loben, was gefährlich ist.
Die Gefahr ist, dass wenn die Leute einmal das Vertrauen in der Demokratie verloren haben, der Übergang zu einem autoritären Regime sehr leicht wird – es braucht bloß eines Funkens. Das ist eine Situation – ich wiederhole es –, die im Europa des 21. Jahrhunderts absolut unannehmbar ist.