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László Bogár: „Man wird die Haushalte Deutschlands, Frankreichs und Italiens miteinander verschmelzen lassen müssen, andernfalls wird der Euro fallen“ – 1/2

Lesezeit: 15 Minuten

Interview mit dem Wirtschaftsexperten und Universitätsprofessoren, ehem. Abgeordneten und ehem. Staatssekretär bzw. Publizisten László Bogár: „Sie haben keine Wahl. Man wird die Haushalte Deutschlands, Frankreichs und Italiens miteinander verschmelzen lassen müssen, andernfalls wird der Euro fallen.“

Teil 1/2.

Ende 2018 hat sich Raoul Weiss mit László Bogár in Budapest für ein unnachgiebiges Interview über wirtschaftliche Fragen getroffen. László Bogár ist ein seit der Wende 1989 sehr bekannter ungarischer Wirtschaftsexperte, der zu denen gehört, die das Wirtschaftsdenken des Fidesz strukturiert haben. László Bogár, der 28 Bücher geschrieben hat, war von 1990-1994 Staatssekretär für politische Fragen im Ministerium für Internationale Wirtschaftsbeziehungen bzw. von 1998-2002 Staatssekretär im Kanzleramt in der ersten Regierung von Viktor Orbán. Sehr kritisch über den aktuellen kapitalistischen System und dessen Auswüchse innerhalb der EU ist László Bogár der mitteleuropäische „illiberale“ Wirtschaftsexperte par excellence.


Raoul Weiss: Was die Eurokrise anbelangt, sei es in Straßburg oder in Budapest befleißigen sich alle stets über vermeintliche „Migrationsrechte“ zu reden, doch suggerieren manche, dass diese großen Grundsatzfragen auch als Vorwand für Wirtschaftsfragen dienen würden, die u.a. die Ursache für die jüngsten Spannungen wären, die man in Brüssel und in Straßburg feststellen kann; diese bösen Zungen sagen uns, dass Deutschland, das mit dem vom Brexit hervorgerufenen finanziellen Verlust konfrontiert sei, die Rechnung gerne von einem Dritten möchte begleichen lassen: entweder von dessen romanischen Schuldnern in Westeuropa und/oder von dessen Subunternehmern in Mitteleuropa. Welch wäre Ihrer Meinung nach die klügste Strategie aus deutscher Sicht? Und unter den Deutschland untergebenen Untergruppen – die romanischen Länder einerseits und Mitteleuropa andererseits –, welche ist Ihrer Meinung nach die widerstandsfähigste? Bzw. um es klar zu sagen: Wenn die Deutschen nicht zahlen wollen, wer wird es tun?

László Bogár: Ich möchte am Anfang meiner Antwort ein breites historisches Panorama aufstellen. Was auch immer wir darüber denken, war der Westen im Laufe der vergangenen Jahrhunderte immer die Heimat eines Weltreichs. Es ist besonders klar im Falle der Portugiesen, der Spanier, der Niederländer, der Franzosen und der Engländer: all diese Nationen waren mindestens während eines Jahrhunderts an der Spitze des Weltreichs; und, wenn beinahe alle westlichen Nationen mehr oder weniger ihre hundert Jahre als Weltmacht erlebt haben (nebenbei gesagt ist diese hundertjährige Periodizität an und für sich ziemlich interessant), ist die Zeit gekommen, um das Reich über den Ozean hinaus an diese Vereinigten Staaten von Amerika weiterzugeben, die inzwischen dort als Pseudonation gegründet wurden und auch praktisch wie eine Nation funktionieren. Und das ist das Jahrhundert, in dem wir gerade leben. Doch auch das dauert u.U. nicht mehr lange: wenn das Reich sich weiterhin alle hundert Jahre weiterversetzt, dann wird auch Amerika bis in etwa zwanzig Jahren seinen Niedergang erleben. Das Wichtigste ist zu verstehen, dass die Weltwährung immer diejenige des Staates ist, der gerade das Weltreich anführt und ipso facto immer eine Doppelstruktur bildet: während er eine Nation bleibt, wird er gleichzeitig zum strukturellen Träger eines Weltreichs. In der Folge bleibt diese Struktur in ihm geprägt: das beste Beispiel dafür ist in dieser Hinsicht das Britische Weltreich: auch solange Großbritannien Mitglied der Europäischen Union geblieben ist (was noch der Fall ist an dem Moment, wo ich mit Ihnen rede), hat es niemals daran gedacht, auf das britische Pfund – eine alte Weltwährung – zugunsten des Euro zu verzichten.

Ich stelle mir vor, dass der Leser keine längeren Erklärungen brauchen wird, um zu verstehen, welchen Vorteil es für eine Macht darstellt, wenn ihre Währung gleichzeitig die Weltwährung ist. Denn, um es bis zum Äußersten zu vereinfachen, im Falle der USA der 1960-70er Jahre bedeutete es, dass, wenn das Reich Geld brauchte – z.B. für einen Krieg in Vietnam, der ihm 5.000 Milliarden Dollar gekostet hätte – und die letzte Rechnung ist noch nicht ausgestellt worden, da man immer noch die Pensionen für die Veteranen zahlen muss –, ließ es ganz einfach das Geld drucken, das es brauchte, und schickte die Rechnung an den Rest der Welt. In der Tat, solange der Dollar 90-95% der Währungsreserven der Welt darstellte – eine Situation, die bis Ende der 1980er Jahre unverändert blieb –, war Charles de Gaulle der einzige, der es wagte, das System herauszufordern, und zahlte es übrigens teuer: 1967 fordert er die Rückgabe des französischen Golds, 1968 bekommt er einen Bürgerkrieg als Quittung zurück, 1969 tritt er zurück und 1970 stirbt er. 1971 gemäß einem Geheimabkommen mit Saudi-Arabien wird vereinbart, dass das Reich in Zukunft jeden liquidieren würde, der es versuchen sollte, mit Öl in einer anderen Währung als dem Dollar zu handeln. Danach stieg der Ölpreis um das 12fache, was dazu führt, dass Westeuropa sich bald nicht mehr zu fragen braucht, was es mit dessen Tonnen an Dollars machen soll, da es gezwungen sein wird, diese zu benutzen, um Öl zu kaufen.

So funktioniert die Welt wirklich. Was in dieser Geschichte wichtig ist zu verstehen, ist, dass, obgleich die Weltherrscher uns wohl vorwerfen können, dass wir an „Verschwörungstheorien“ glauben, das, dem wir gerade beiwohnen, die Verschwörungspraxis ist. (…) Was wir davon behalten sollen, ist, dass das derzeitige Weltreich alles in seiner Macht Mögliche tun wird, um es so lange wie nur möglich zu bleiben – und zwar wegen der außergewöhnlichen Möglichkeiten, die ihm das Beherrschen der Weltwährung bietet. Im Moment, wo wir miteinander reden, sind etwas weniger als 60% der Weltreserven immer noch in Dollar, was zwar einen gewaltigen Sturz gegenüber 95% darstellt, aber weiterhin ein kolossaler Anteil bleibt.

Raoul Weiss: Es ist diesbezüglich, dass de Gaulle – und das Wort ist in der Geschichte geblieben – von einem „exorbitanten Privileg“ gesprochen hatte. [N.b. das Wort stammt eigentlich von Valéry Giscard d’Estaing, der damals Finanzminister war, allerdings stimmte de Gaulle vollends diesem Kommentar zu, daher wird es ihm gewöhnlich irrtümlich zugeschrieben, NdR].

László Bogár: Die Redewendung ist in der Tat zutreffend. Was den Euro betrifft, so kommt sein Status von einem tieferen Problem her. Wenn man die Listen der Nationen aufstellt, die zum Weltreich berufen wurden, kann man nur feststellen, dass nach den Portugiesen, den Spaniern, den Holländern, den Franzosen und den Engländern, die Deutschen nicht drangekommen sind. Im Laufe des 20. Jahrhunderts versucht Deutschland zweimal, das Weltreich für hundert Jahre an sich zu reißen. Im Laufe der beiden Weltkriege (die ich gewöhnlich „Projekte“ nenne: zwei Projekte der Hochfinanz), hat die Hochfinanz – die echten Weltherrscher – Deutschland ganz deutliche Signale geschickt, damit es folgende Botschaft verstehe: „Du wirst niemals das Weltreich führen. Wir erkennen zwar Dein Talent, Deinen Eifer, Deine gewaltige technologische Überlegenheit, doch wirst Du niemals drankommen, auch nicht für 100 kleine Jahre, auch nicht provisorisch.“ Deshalb ging es in der wirklichen Geschichte der 70 Jahre, die nach dem Zweiten Weltkrieg kamen, darum, dass das amerikanische Weltreich sich ständig anstrengte, den Spielraum Deutschlands einzuengen… (…) Um [den Titel eines berühmten Films der tschechischen Neuen Welle zu parodieren] – Scharf beobachtete Züge (tsch. Ostře sledované vlaky) –, könnte man sagen, dass jene siebzig Jahre diejenigen eines scharf beobachteten Deutschlands waren. Auf kultureller Ebene wurde es brutal gebändigt. Die Botschaft war klar: „Du hast keine Vergangenheit, keine Kultur, keine Geschichte – alles, was Volkstum betrifft, ist untersagt.“ Und nun habe ich eben das Schlüsselwort ausgesprochen: in dieser ganzen Geschichte geht es um das Volkstum. Denn das Ziel der Hochfinanz ist es, sowohl die Individuen wie auch die mehr oder weniger breiten Gemeinschaften – bis hin zu den Volksgemeinschaften – von deren Volkstum, von deren Identität zu berauben, um sie in dem aufzulösen, was ich für gewöhnlich „den aufgelösten Abschaum des Multikulturalismus“ nenne, in dem einzigen Zustand, wo sie aus dem Blickwinkel des Systems harmlos werden. Wer eine Identität besitzt, ist gefährlich, denn die eigentliche Grundlage des Menschenglücks ist, wenn ich weiß, wer ich bin, und wenn, was auch immer die Herausforderungen und die Leiden seien, wodurch ich muss, ich dann auch weiß, warum ich diese trotze – dann bin ich eben Jemand. Das ist die einzige wirkliche Lebensweise, sowohl für die Menschen wie auch für die unterschiedlichen Menschengruppen. Das ist das, was diese Hochfinanz alles unterdrücken will, die behauptet sogar, dass es sie selbst gar nicht gebe. Es scheint mir leider, dass diese Unterdrückung im Falle Deutschlands ein Erfolg war; u.a. dessen katastrophale Demographie zeigt, wie sehr die Deutschen sich in geistiger, moralischer und intellektueller Hinsicht zersetzt haben. Parallel dazu hat Deutschland freilich als kapitalistische Struktur in diesen 70 Jahren riesige Erfolge erreicht. Als Exportweltmeister gelangt es ihm sogar Amerika weit hinter sich zu lassen (…). Im Moment, wo ich mit Ihnen rede, stehen sie Kopf an Kopf, es ist ein sehr knappes Rennen; trotz gewaltiger Unterschiede in der Größe dieser zwei Länder erreichen die deutschen Exporte beinahe diejenigen der USA. Es ist eine gigantische Leistung.

Und meiner Meinung nach kommen wir jetzt auf das Wesentliche: für mich ist der Euro eine Art Trostpreis für Deutschland. Es musste auf das Weltreich verzichten, doch mindestens durfte es eine beinahe Weltwährung haben. Für mich ist der Euro die Mark des IV. Deutschen Reichs. Freilich darf man dieses IV. Reich nicht beim Namen nennen – umso mehr als es dem III. Reich folgt… Und das Ende der Geschichte ist, dass der Euro für das immer bedrängtere und in Chaos abstürzende amerikanische Reich auch immer mehr zum störenden Hindernis wird. Somit würden sich die USA wünschen, dass der Euro möglichst rasch falle, denn dieser tritt ihm auf die Füße. 25% der Währungsreserven in der Welt sind in Euro. Den dritten Platz besitzt das britische Pfund, gefolgt vom Yen und vom Schweizer Franken, doch jedenfalls mit einem Anteil von 3-4%. Alles Andere ist nicht mal erwähnenswert – inklusive China, dessen Währung, der Renminbi, in etwa 2,8% darstellt. Allein der Euro ist in der Lage, den Dollar herauszufordern: zwischen den mehr oder weniger 60% von letzterem und den 25-26% des Euro spielt man fast in der gleichen Liga. Der Anteil der Reserven in Euro kommt allmählich an die Hälfte von denen in Dollar heran. Das Niederdrückendste für das amerikanische Reich ist, dass letzteres auch in anderen Bereichen an Terrain verliert, was die USA immer weniger fähig macht, ihre Weltherrschaft zu behalten, und sie in eine immer schlimmere Finanzierungskrise hineinstürzen lässt – da es der amerikanischen Nation obliegt, die Last der Ausgaben des amerikanischen Reichs zu tragen. Das Reich besitzt keinen Haushalt de iure – somit ist es selbstverständlich die amerikanische Nation, die zur Kasse gebeten wird. Allerdings ist der Farmer aus Iowa nicht sicher zu verstehen, warum sein Land einen jährlichen Militärhaushalt von 1000 Milliarden Dollar braucht, da er in dieser Welt von niemandem bedroht wird – und währenddessen schützt ihn das Reich vor dem nicht, was ihn wirklich bedroht, wie z.B. Migrationen.

Raoul Weiss: Man kann sich aber fragen, inwieweit Deutschland wirklich zum Widerstand entschlossen sei, da die deutsche Nation zwar ein Reich gerne besäße aber sich dagegen sträubt für die Kosten aufzukommen…

László Bogár: Das wollen die heutigen Deutschen, genauso wie Deutschland, als Bestandteil der weltweiten kapitalistischen Struktur, und auch die deutsche Gesellschaft, die noch im Wohlstand lebt, diesen imperialen Status wünschen würden. Ich würde sogar zögern zu sagen, dass Deutschland den Preis dafür nicht zahlen wolle; ich habe eher den Eindruck, dass es nicht den Mut habe, sich einzugestehen, dass es dem amerikanischen Reich gegenübertreten müsste, um seine imperiale Kandidatur zu verteidigen. Und da liegt eben die Grenze der Kühnheit. Es würde gerne mögen, schafft es aber nicht, sich vorzustellen, was diese Gegenüberstellung bedeuten könnte. Vergessen wir vorerst nicht, dass Deutschland in den 1970er Jahren zum Theater von zahlreichen politischen Morden wurde: ranghohe Persönlichkeiten (wie z.B. der Direktor der Dresdner Bank [László Bogár erwähnt dabei entweder Alfred Herrhausen, Vorstandssprecher der Deutschen Bank (+30.11.1989), oder Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Dresdner Bank (+30.7.1977), NdR] wurden auf der Straße erschossen, ohne dass man je den Mörder finden konnte. Die deutschen Eliten haben damals gespürt, dass das Reich auf ziemlich brutale Methoden zurückgreifen kann, wenn es den Bedarf empfand, sie zu bestrafen, und wünschen daher, die Erfahrung einer solchen Konfrontation nicht zu wiederholen. Einerseits bedeutet auch der tiefere Sinn der Migrantenkrise, dass das amerikanische Reich ganz Europa in den Ruin treiben will und es gerne sehen würde, wenn der Euro schwächer bzw. platzen würde – wodurch der Dollar automatisch an Terrain zurückgewinnen würde, auch wenn dies bloß eine provisorische Atempause darstellen würde. Das Platzen des Euro hätte auch äußerst schwere Konsequenzen für Deutschland. Freilich sollten die schlimmsten Konsequenzen – ein Detail mit großer Bedeutung! – vom südlichen Europa getragen werden, hinter dessen Zerfall man allerdings – und das ist hier der heikelste Punkt, den man betonen sollte – die Habgier der deutschen wirtschaftlichen wie politischen Eliten findet. Denn in jenen 2500 Milliarden Euro der italienischen Staatsschulden findet man diese gewaltigen Handelsdefizite Italiens gegenüber Deutschland, von denen letzteres im Großen und Ganzen profitiert hat. Mit anderen Worten: die deutsche Reichsmark, die Währung des IV. Reichs, zu kontrollieren impliziert auch Verantwortung. Wenn die Europäische Union ein einheitliches Imperium wäre, würde es das Problem gar nicht geben. Innerhalb der USA ist es z.B. nicht einmal möglich, den Anteil von Iowa bzw. von Kansas an den Staatsschulden zu messen.

László Bogár (links) und Raoul Weiss (rechts) Ende November 2018 in Budapest. Bild: Visegrád Post.

Raoul Weiss: Man spricht schon über ein gemeinsames deutsch-französisches Parlament. Es existiert zwar noch nicht, doch steht es in allen Munden. Doch wo ist der gemeinsame Haushalt? Macron hat zwar Merkel einiges in dieser Richtung unterbreitet, doch alles, was Merkel gewillt zu sein scheint, ihm lockerzumachen, liegt um die 5% der erbetenen Summen…

László Bogár: Sie haben keine Wahl. Man wird die Haushalte Deutschlands, Frankreichs und Italiens miteinander verschmelzen lassen müssen, andernfalls wird der Euro fallen. Wenn man das heute so sagt, dann klingt das vielleicht eher nach Politfiktion und die deutsche Elite kann entscheiden zu sagen: „Nein, das akzeptiere ich nicht“ – aber dann ist es mit dem Euro vorbei. An dem Moment wird der Kalkül wie folgt sein: lassen wir den Euro versinken, Deutschland wird so oder so in irgendeiner Form über Europa herrschen – ja, aber es wird über ein Europa herrschen, in dem nicht nur Italien sondern auch Frankreich vollends ins Chaos stürzen werden. Das ist die Wahl, bezüglich dessen die Deutschen nun Pro und Kontra abwägen müssen: entweder stehen sie offen zu ihrem Willen, ein Weltreich Europa so funktionieren zu lassen, dass dieses Reich auch bestehen könne und zwar mit dem Euro, oder alles hinschmeißen, in welchem Fall das Reich auseinandergehen wird, was mittelfristig freilich katastrophale Konsequenzen zuerst für die Franzosen, die Italiener und das gesamte Südeuropa haben wird, doch Deutschland auch nicht ersparen wird. Es wird nicht lange dauern, bis sie entscheiden müssen. Das amerikanische Reich setzt auf den Sturz des Euro, der für die USA ein gutes Geschäft wäre. Und es gibt auch einen Teil der deutschen Eliten, der sich sagt: „Schmeißen wir alles hin! – Mindestens wird man diesen Klotz nicht mehr am Bein haben!“ Aber die deutschen Eliten haben noch keine klare Vorstellung von der Größe der Blessuren, die ihnen das vollständige Platzen des Euro mittelfristig zufügen könnte. Ich denke, dass die kommenden Jahre kritisch sein werden – sagen wir die nächsten fünf Jahre, während deren die deutschen Eliten werden entscheiden müssen – und in diesem Hinblick wird es sehr wichtig sein zu wissen, wer Frau Merkel als Bundeskanzler folgen wird – (…) Mit diesem Herrn Merz, der der Kandidat Wolfgang Schäubles ist –, und durch diesen, in Wirklichkeit, Helmut Kohls –, da kann man vermuten, wohin die Reise geht. Ihn verdächtige ich sogar, dass er in der Lage sei, das Problem in dessen Gesamtheit zu verstehen, während ich mich bei den anderen Kandidaten nicht vorzustellen vermöge, dass sie die Frage interpretieren könnten. Niemand könnte heute sagen, wie Merz antworten würde, wenn er sich eines Tages dem Problem stellen müsste, aber er wäre mindestens in der Lage, das Problem selber zu verstehen und es den deutschen Eliten verständlich zu machen. Merz hat außerdem gerade eine Niederlage beim ersten Wahlgang des Wettbewerbs um den CDU-Vorsitz erlebt – was letztendlich zu seinem Vorteil werden könnte. Doch denke ich, dass die Entscheidung im Laufe der kommenden fünf Jahre fallen muss und dass sie eine schwerwiegende Bedeutung haben wird: die Zukunft ganz Europas – für, sagen wir, fünfzig Jahre – wird durch die Fähigkeit bestimmt, die der Nachfolger [Merkels] haben wird oder nicht, die Natur der Situation zu verstehen und eine strategische Antwort zu geben, die das geringste Übel für Europa darstellt. Da sind die guten Lösungen eher Mangelware.

Raoul Weiss: Kommen wir nun auf den Euro – oder eher auf den Forint – zurück. In Frankreich heute bezeichnen viele den Euro wie eine Falle. Davon ausgehend, dass er auch für Ungarn eine Falle gewesen wäre – was nicht sicher ist, da die Parameter der Ausgangssituation anders sind –, kann man sagen, dass es Ungarn gelang, der Falle zu entgehen. Bleibt allerdings die Frage zu wissen, inwieweit dieser behaltene Forint die geldpolitische Unabhängigkeit Ungarns garantiere – bzw. um die Frage etwas einfacher zu stellen: Ist der Forint wirklich eine ungarische Währung?

László Bogár: Mit der scharfen Ironie, die uns kennzeichnet, haben wir in Ungarn ein Bonmot, demgemäß das einzige Problem mit der Ungarischen Nationalbank sei, dass sie weder ungarisch, noch national und auch keine Bank sei; in Wirklichkeit stellt sie die ungarische Niederlassung der Hochfinanz dar. Es ist das Dogma der Unabhängigkeit der Zentralbanken, das die liberale Indoktrinierung sich bemüht, der ungarischen Gesellschaft durch ein gigantisches Medienarsenal einzuhämmern – der Gedanke des Hauptaxioms ist, dass die Ungarische Nationalbank unabhängig sei, sprich unabhängig vom ungarischen Volk und von den strategischen Interessen Ungarns. Heutzutage ist der öffentliche Diskurs in Ungarn fähig geworden, diese Idee zu verstehen, und die Menschen sehen ganz genau, was eine solche „Unabhängigkeit“ bedeutet: die Pflicht, den Interessen der internationalen Hochfinanz zu dienen, beginnend mit dem ersten davon: das Ziel ist, möglichst viele Ressourcen von Ungarn abzuziehen – teilweise durch Währungskurse, teilweise in der Form von Zinsen auf den Staatsschulden. Konkret heißt das, dass die Zinsen auf ungarische Staatsanleihen, die das Land verlassen, möglichst hoch und die Wechselkurse für Ungarn möglichst ungünstig sein sollen. Darauf sind die schwersten Konflikte zurückzuführen, die die Regierungen von Viktor Orbán im Laufe der letzten acht Jahre belastet haben, und es ist höchstwahrscheinlich, dass diese Konflikte – wie die jüngsten Auseinandersetzungen im Europaparlament dies zeigen – in Zukunft – besonders im Laufe der Monate bis zu den Europawahlen, aber auch danach – immer intensiver werden. Sie wurzeln großteils darin, dass Viktor Orbán einer dieser europäischen Politiker ist – und derzeit sind das ziemlich wenige –, die dieses Problem identifiziert haben.

Der berühmte ungarische Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, István Bibó, hat die folgende Formulierung vorgeschlagen: die Schwäche des Ungartums liegt darin, dass es einerseits Hypertonie-Realisten hervorbringt, die wohl die Herausforderungen ihrer Zeit sehen, aber nicht wissen, wie sie darauf reagieren sollten und es daher bevorzugen, sich in die Pose des Propheten zu flüchten; andererseits falsche Pragmatiker, die eine zynische Haltung einnehmen, nach dem Motto: „Ach was, ob wir wollen oder nicht, werden wir wohl dem Weltreich dienen müssen, somit sollte man sich nicht sorgen, denn das beste Mittel, um damit klarzukommen, ist ihm zu helfen, klarzukommen“ – außer dass dies freilich zum Nachteil der Mehrheit des Volkes geschieht.

Raoul Weiss: Leute wie Gyurcsány… [sozialistischer Ministerpräsident 2004-2009, NdR]

László Bogár: Nun ja, Gyurcsány. Und das bringt Bibó dazu, zu sagen, dass das, was wir brauchen würden, pragmatische Realisten wären: Männer, die fähig wären, die Herausforderungen zu verstehen, zu sehen, dass ihre Heimat mit dem Rücken an der Wand steht, aber auch eine pragmatische Auffassung zu haben, die darauf beruht, dass man immer ein Mindestmaß an Spielraum hat. „Versuchen wir, den Schraubstock locker zu machen“. Das ist der Ursprung des Konflikts: das System der Hochfinanz empfindet es schon als ein Attentat, wenn eine Nation es versucht, sich im Schraubstock etwas zu bewegen.

Raoul Weiss: Es ist Euch gelungen, den IWF loszuwerden.

László Bogár: Ja, und hierfür war es sogar notwendig, den Direktor der Zentralbank auszutauschen. Was auch logisch ist: Ministerpräsident und Zentralbankdirektor müssen möglichst eng zusammenarbeiten und sogar ihre Kommunikation perfekt synchronisieren. Und alles scheint, darauf hinzuweisen, dass es im Laufe der letzten acht Jahre – um den Preis von Risiken, Spannungen bzw. gewaltigen Konflikten – Ungarn gelungen ist – heute erkennt das jedermann –, sich in eine günstigere Lage zu versetzen als vor zehn Jahren. Und das scheint uns auch zeigen zu müssen, dass man – auch wenn der Spielraum nicht sehr groß ist – freilich bedeutende Risiken eingehen muss, denn, wenn die Umstände es erlauben, ist frisch gewagt eben halb gewonnen. Ein Politiker braucht unbedingt eine gehörige Portion Mut, vor allem intellektuellen Mut, Wissen und Entschlossenheit, um wirklich als verantwortlicher Staatsmann handeln zu können, um mehr zu sein als ein einfacher globalistischer Kollaborateur – auch wenn man selbstverständlich auch ein bisschen zusammenarbeiten muss. Die direkte Konfrontation auch ist absurd. Aber trotzdem gibt es einen Spielraum und Tatsache ist, dass Ungarn heute mehr oder weniger aus der Falle herausgekommen ist und über eine gewisse Freiheit verfügt. Wir bleiben freilich dem globalen System der Hochfinanz unterworfen, doch diese Freiheit gibt es allerdings, und qualitativ kann man sagen, dass Viktor Orbán diese besser benutzt als Ferenc Gyurcsány – der es übrigens gar nicht wünschte, sie gut zu benutzen, aber das ist ein anderes Thema.

Raoul Weiss: Allerdings funktioniert die Geldpumpe immer noch.

László Bogár: Selbstverständlich, das steht außer Zweifel. Und sie ist hier um zu bleiben, doch wie das ungarische Sprichwort sagt: „ein bisschen Zeit gewinnen, kann Ihnen das Leben retten“. Die bloße Tatsache, dass ein kleines Volk, das schon historisch betrachtet einen schlechten Anlauf im vorigen Jahrhundert hatte – die ungarische Nation –, sich innerhalb eines Jahrzehnts die Entnahme von ein paar Milliarden Euro hat ersparen können, kann genügen, um eine Veränderung hervorzurufen, die ihm z.B. etwas mehr Chance im Bereich der Demographie geben kann. Denn, wie Sie es wissen, in Ungarn wie sonstwo ist das eben das größte Problem: im Laufe der letzten dreißig Jahre hatten wir eine Million mehr Todesfälle als Geburten. Die Bevölkerung wird älter, was die Alterspyramide ins Wanken bringt, und die Anzahl der Erwerbstätigen stürzt ab – was provisorisch den Vorteil bringt, die Arbeitskraft aufzuwerten, was eine Steigerung der Gehälter ermöglicht: der Arbeitskräftemangel ist derart, dass das Kapital wohl gezwungen wird, leichte Gehaltserhöhungen zu gewähren.

Doch das Wichtigste scheint mir, dass Viktor Orbán den Sieg der realistisch-pragmatischen Option verkörpert – mit anderen Worten könnte seine Strategie erfolgreich sein.

Raoul Weiss: Derzeit wird Ungarn reicher und industrialisiert sich ein bisschen; doch in den 1990er und 2000er Jahren war es nicht so. Das ist ein Punkt, worauf ich zurückkommen möchte, denn in den politischen Auseinandersetzungen in Westeuropa – oft sogar in den europaskeptischen Kreisen – ist es nun üblich geworden, die V4-Länder als geschickte Parasiten darzustellen, die Meister in der Kunst geworden seien, das Blut der großen Volkswirtschaften der Metropole durch die europäischen Fonds zu saugen. Allerdings, als ich Ihre Tätigkeit als Publizist verfolgte, wurde ich bei Ihnen mit einem radikal anderen Standpunkt über viele Themen konfrontiert, darunter über die Weise, wie diese Vermögenstranfers zwischen Ost und West sich seit dem Fall des Kommunismus und besonders im Laufe der Periode, die unmittelbar der Wende folgte, abgespielt haben.

László Bogár: Es ist eine Darstellung der Tatsachen, die mir als außerordentlich falsch erscheint. Im Laufe der Jahre vor 2004 [EU-Beitritt Ungarns] – sprich während einer Periode von vierzehn, man könnte sogar sagen zwanzig Jahren, wenn man betrachtet, dass Ungarn schon in den 1980er Jahren noch ungünstigere Abkommen [als die heutigen] mit der EG abgeschlossen hatte –, hat Ungarn einseitig seine Märkte geöffnet. Vergessen wir nicht, dass Ungarn schon ab 1988 für ausländisches Kapital offen war. In dieser Perspektive hat Ungarn – als ein Land, das ohne Gegenleistung seinen Wirtschaftsraum eröffnet hat – in Wirklichkeit einen gewaltigen Beitrag zum Reichtum im Westen geleistet. Es gibt mindestens eine Null mehr hinter dem Gesamtbetrag der Gelder, die Ungarn verlassen haben – sei es als Profit oder als Zinsen für die Staatsschulden, da die Gläubiger selbstverständlich diese westeuropäischen Länder waren – und dem der seit dem EU-Beitritt des Landes erhaltenen Hilfen.

Gewissermaßen kann man also sagen, dass das Gegenteil wahr ist: in den vierzehn Jahren seit dem EU-Beitritt Ungarns hat das Land nur einen Teil dessen zurückerhalten (…) was die westeuropäischen Länder ihm im Laufe der 20-25 Jahre vor diesem Beitritt 2004 entnommen hatten. Der Grund, wofür es allerdings nicht einfach ist, dieses Thema in den Medien zu erörtern, ist, dass es unheimlich schwieriger ist, diese Tatsache zu erklären und zu verdeutlichen, als auf die auffällige wenn auch falsche Metapher des kleinen, armseligen, zynischen und schmutzigen Parasiten aus dem Osten zurückzugreifen, die jedermann mühelos versteht und sogar angenehm in den Ohren des Bürgers Westeuropas klingt, denn sie hat zumindest den Verdienst, ihm einen Sündenbock zu bieten: dadurch weiß er also Bescheid: „Das ist es, mein Problem! Deshalb gibt es niemals genug für mich! Weil wir eben diese Habenichtse unterstützen!“ Das Gleiche gilt auch für Griechenland – diese armselige und faule griechische Gesellschaft: dabei vergisst jeder, Ihnen zu sagen, dass man die Zinsen der griechischen in Euro ausgestellten Staatsanleihen auf 35% mittels einer aus dem Ärmel geschüttelten Hysterie hat klettern lassen, da man erzählte, dass Griechenland Pleite gehen würde und dass man gerade deswegen die Zinsen maximieren müsse, um die Gläubiger für den Fall einer Pleite zu schützen. Allerdings ist das Land nicht Pleite gegangen und natürlich hat keiner der Gläubiger diese gewaltigen Summen zurückerstattet, die man dank diesem Argument von Griechenland erpresst hat. Alle wussten, dass Griechenland nicht Pleite gehen würde, alle haben gespielt und tun es mit einem unglaublichen Zynismus weiterhin.


Ende des ersten Teils des Interviews. Teil 2/2.