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László Bogár: „Unsere Region wird wieder zu einer Pufferzone, deren geopolitischer Wert rasend am Wachsen ist“ – 2/2

Lesezeit: 15 Minuten

Interview mit dem Wirtschaftsexperten und Universitätsprofessoren, ehem. Abgeordneten und ehem. Staatssekretär bzw. Publizisten László Bogár: „Unsere Region wird wieder zu einer Pufferzone, deren geopolitischer Wert rasend am Wachsen ist“.

Teil 1/2. Sie lesen Teil 2/2.

Ende 2018 hat sich Raoul Weiss mit László Bogár in Budapest für ein unnachgiebiges Interview über wirtschaftliche Fragen getroffen. László Bogár ist ein seit der Wende 1989 sehr bekannter ungarischer Wirtschaftsexperte, der zu denen gehört, die das Wirtschaftsdenken des Fidesz strukturiert haben. László Bogár, der 28 Bücher geschrieben hat, war von 1990-1994 Staatssekretär für politische Fragen im Ministerium für Internationale Wirtschaftsbeziehungen bzw. von 1998-2002 Staatssekretär im Kanzleramt in der ersten Regierung von Viktor Orbán. Sehr kritisch über den aktuellen kapitalistischen System und dessen Auswüchse innerhalb der EU ist László Bogár der mitteleuropäische „illiberale“ Wirtschaftsexperte par excellence.


Raoul Weiss: László Bogár, welch ist die wirtschaftliche Realität der V4? Bisher waren die großen Handelswege in Mitteleuropa in einer Ost-West-Richtung angelegt. Woran mangelt Mitteleuropa am meisten, um sich auch im Bereich der Wirtschaft zu behaupten? Ergänzen sich die mitteleuropäischen Volkswirtschaften zur Genüge? oder mangelt es an Nord-Süd-Infrastrukturen – sei es in den Bereichen der Logistik oder der Finanzen – um die Dominanz der Ost-West-Infrastrukturen zu kompensieren? Und letztendlich – vorausgesetzt dass die V4 danach trachte, solche Infrastrukturen zu entwickeln – inwieweit denken Sie, dass der Westen eine solche Entwicklung dulden wird?

László Bogár: Es ist das alles zusammen. Es gibt einen russischstämmigen Analysten bei Bloomberg, ein gewisser Bershidsky, der hörenswert ist. Er ist ein reiner Liberaler und absoluter Zyniker aber er legt wie kein zweiter den Finger auf  Elemente großer Bedeutung; ihm verdanken wir, um jene Länder zu beschreiben, die Redewendung „foreign owned countries“ (Länder in fremdem Besitz). Damit sagt er in etwa: „Liebe Populisten, woran spielt Ihr denn? Wir – die Weltfinanz – wir halten Euch.“ Erkennen wir es, es gibt viel Wahrheit in dem, was er sagt – ganz besonders im Falle von Ungarn. Die vorsichtigsten sind die Tschechen gewesen. Die am wenigsten vorsichtig waren die Slowaken, denn schlussendlich gibt es die Slowakei nicht: sie ist bloß ein teils deutsches, teils französisches Lagerhaus. Ab dem Moment, wo diese Weltriesen zusammenbrechen würden, würden Länder wie die Slowakei, die ihnen vollends ausgeliefert sind, Gefahr laufen, schlicht und einfach augenblicklich zu verschwinden. Konkret exportiert die Slowakei ihren gesamten BIP. Freilich ist es auch für Singapur der Fall – allerdings mit anderen Rahmenbedingungen.

In Wirklichkeit befinden sich all diese Länder in den Fesseln einer gleichen Kette der Sklaverei; allerdings wurde dies von allen wahrgenommen, sie fangen an, das Problem zu verstehen. Der Widerstand ist in Ungarn am stärksten [und zwar aus gutem Grunde], dann in der Slowakei, und wir, Ungarn, sind die am wenigsten unabhängigen der Gruppe.

Raoul Weiss: Von diesem Standpunkt aus wäre also Polen das unabhängigste Land der Gruppe.

László Bogár: Das ist in der Tat so. Zuerst weil jeder begreifen konnte, dass Polen als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hätte herauskommen sollen; doch von allen Ländern in dieser Lage wurde allein Polen wie ein besiegtes Land behandelt. Es ist teilweise auch wahr für die Tschechoslowakei, aber vor allem für Polen, dessen Leiden schrecklich wurden, und das, statt die astronomischen Kompensierungen zu erhalten, worauf es Recht hatte, hat es sich mit der Standardportion begnügen müssen. Aber da dies ein gewaltiges Potential an Revolte mit sich bringt, versteht man besser, wieso dort die Kirche und die ländlichen Gebiete mit mehr Rücksicht als anderswo behandelt wurden.

Raoul Weiss: Daher kann man sich fragen, wieso, während Polen in dem Bereich eine Länge voraus ist, es dann eher Ungarn sei, das die Führungsrolle in der Emanzipationsbewegung spiele…

László Bogár: Es is ein kultureller Unterschied, der auch mit der Persönlichkeit von Viktor Orbán zu tun hat. Grund dafür ist, dass – auch wenn man es teilweise auch über die Polen und Tschechen sagen könnte – die Ungarn im Laufe der letzten drei Jahrhunderte ganz besonders zu einer optimalen geistigen Produktion genötigt wurden. Nicht dass sie in allen Fällen geneigter als andere wären, sich mit dem Geistigen zu beschäftigen, sondern weil sie solchen brutalen Erschütterungen, Beschränkungen bzw. Umwälzungen ausgesetzt wurden, dass ihre intellektuelle Sensibilität daraus gesteigert werden musste – ich sage das ohne allerdings diejenige der Tschechen bzw. der Polen zu unterschätzen, die ebenfalls mit wesentlichen existentiellen Herausforderungen konfrontiert wurden, die ähnliche Konsequenzen hatten. Doch bleibt die Reihenfolge immerhin wie sie ist: wenn es um eine intellektuelle Gärung geht, die auf die Bestimmung eines neuen weltweiten Trends münden kann, dann liegt Ungarn vorne, denn wenn man eine Bilanz – sagen wir – der letzten dreihundert Jahre zieht, so ist es Ungarn, das sich den meisten geistigen Herausforderungen hat stellen müssen. Bemerken wir allerdings, dass diese Situation keine Spannungen mit den Tschechen und Polen hervorruft, die diese Führung gerne annehmen: die Polen vollkommen und die Tschechen insgesamt auch. In den drei Hauptstädten – da spielt die Slowakei nicht mit – ist das Basisdilemma das gleiche. Es handelt sich um eine Zusammenarbeit zwischen drei großen Kulturnationen (Tschechen, Polen und Ungarn), die zwar in Konflikten gegeneinander aufzutreten hatten, doch im großen und ganzen auf tausend Jahre der Sympathie und der Zusammenarbeit zurückblicken können. (…) nun beobachtet man in diesen drei Nationen den gleichen intellektuellen Frontalzusammenstoß zwischen zwei Lagern. Einerseits gibt es die einheimischen Kollaborateure des Globalismus (…), die selbstverständlich über eine ständige internationale Unterstützung verfügen. Andererseits gibt es ein anderes Lager, das schwieriger zu definieren ist. In Ungarn definiert es sich selbst als „die Rechte“, als das bürgerliche, nationale, christliche, volksnahe und konservative Lager – sprich, es definiert sich selbst in sehr unterschiedlichen Weisen. Diese Unentschlossenheit entspricht teilweise internen Konflikten – aus diesem Blickpunkt bildet der Fidesz selbst eine große Koalition mit sehr vielen Strömungen, die von Viktor Orbán zusammengehalten werden. Sie bekämpfen nicht weniger einander, aber sie begreifen auch, dass sie erfolgreicher sein werden, wenn sie sich für Eintracht entscheiden.

Wie werden wohl Länder – die gleich Perlen auf der langen Kette des globalistischen Kapitalismus aneinander gereiht werden, parallele Existenzen führen und unfähig sind, in Beziehungen zueinander zu treten –, überhaupt zusammenarbeiten können? Dafür werden sie vor allem eine geistige Vision brauchen, die vollkommen durchdacht wurde. Deshalb messe ich der gegenwärtigen intellektuellen Gärung so viel Bedeutung bei. Einerseits ist es eine Aufgabe, die diese nicht innerhalb von fünf Minuten erledigen werden: es handelt sich dabei nicht mehr und nicht weniger als um den Anfang einer neuen Ära in der Geschichte, die man auf ein nachhaltiges Narrativ und nicht bloß auf eine vorübergehende Übereinkunft stützen sollte, da letztere sich in fünf Minuten auflösen könnte. Das ist umso wichtiger als unsere Region wieder zu einer Pufferzone wird, deren [geopolitischer] Wert rasend am Wachsen ist. Wir sehen in der Tat, dass das gerade einstürzende und bald sterbende amerikanische Imperium es versucht, Europa, die EU, Russland und China zu schwächen – indem es jede dieser Mächte einzeln ins Visier nimmt, bzw. auch indem es bei Kräften die Netzwerke verwüstet, die letztere vereinen. Aus dessen Blickwinkel ist es absolut logisch – das Problem ist aber, dass die größten Verlierer dieser Verwüstung durchaus die Länder jener Pufferzone sein könnten. In Konsequenz und vorausgesetzt, dass diese Region nicht wieder zahlen will, und hoffentlich will sie es nicht… ist es die Ukraine, die dieses Desaster am besten illustriert, das auf uns warten würde, wenn wir der Unverantwortung von kurzsichtigen und egoistischen Eliten nachgeben würden. In dieser Hinsicht steht auch Rumänien ziemlich wackelig da und könnte noch einiges an Überraschungen erleben. Die baltischen Länder ebenso. Sogar die Polen sind von Zeit zu Zeit selbst Opfer ihrer krankhaften Russenfeindlichkeit, die zwar verständlich ist, aber sich in der gegenwärtigen Situation als gefährlich kontraproduktiv erweisen könnte.

Das alles ist derzeit nicht allzu gefährlich, aber es ist wohl auch ein weiteres Zeichen für die bevorstehende brutale strategische Aufwertung dieser Region, die die [konkurrierenden] Imperien sich werden kaufen wollen. Es ist somit möglich, letztere gegeneinander auszuspielen. Sogar geradeheraus kann man von denen vier oder fünf zitieren: das Imperium EU, Russland, China, Amerika [Darüber hinaus soll man noch die nicht territorialen Mächte hinzufügen] Bei den Juden  (…) zeigt der Zusammenstoß zwischen Soros und Netanjahu deutlich, dass es ein einheimisches Judentum und ein globalistisches Judentum gibt. Davon zu reden heißt freilich an einem Tabu anzustreifen – doch wie soll man in der Tat diesen Zusammenstoß anders erklären, als indemman vermute, dass Netanjahu, der im Namen des einheimischen Judentums spricht, George Soros zu verstehen gibt, dass es an der Zeit wäre, etwas mehr Verantwortung zu zeigen, wenn er mit dem Schicksal der Juden auf der ganzen Welt spiele. (…) Und nun kommt Netanjahu auf Einladung der V4 hierher und lädt diese nach Tel-Aviv bzw. Jerusalem ein – ein Ereignis, das vor kaum ein paar Jahren im Bereich der Politfiktion gelegen wäre.

Raoul Weiss: Hinter all diesen Scheidungen gibt es einen erstrangigen anthropologischen Bruch, der vor einigen Jahren vom französischen Geographen Guilluy in einem Bestseller mit dem Titel La France périphérique ans Licht gebracht wurde. Inzwischen machte er seinen Gedanken internationaler, und zwar in der Form des Bandes No Society, der zahlreiche Beispiele aus Deutschland, Nordamerika usw. enthält – aber das Basismuster bleibt gleich: einerseits gibt es die metropolisierte Menschheit, lebe sie in Jerusalem, in Tel-Aviv, in Paris, in Budapest…

László Bogár: Früher nannte man das die kosmopolitische Welt – obwohl es an der Zeit wäre, ein passenderes Wort zu finden.

Aber wenn der Konflikt zwischen Netanjahu und Soros sich verschlimmert… und einige Zeichen deuten in diese Richtung – u.a. bezüglich mancher wesentlichen Themen: Netanjahu geniert sich z.B. nicht um zu erklären, dass das Schicksal der Juden Europas – und da reden wir um mindestens 2,5 bis 3 Millionen Menschen – in tragischer Weise von der Migrationsfrage beeinflusst wird, einer Debatte, in der er Positionen übernimmt, die in diametraler Opposition zu denen Sorosʼ stehen. In dieser Hinsicht ist es da eine Situation, die uns Hoffnung geben kann, sei es bloß, weil es nun möglich ist, einen solchen diskursiven Raum zu eröffnen. In welche Richtung er sich dann bewegen wird, ist eine ganz andere Frage, aber [im Moment geht es nur um die bloße] Existenz dieses diskursiven Raums, wo es möglich wird, diese Fragen aufrichtig und menschlich zu erörtern bzw. bloß zu behaupten, dass es Unstimmigkeiten gibt. Die bloße Tatsache, dass es nicht mehr möglich ist, jeden als Idiot zu bezeichnen, der es wagt, dieses Thema zu erwähnen und sich dessen im Schnellverfahren mit allerlei Unterstellungen und Verdächtigungen zu entledigen, bloß dadurch, dass man nunmehr diesen diskursiven Raum zur Kenntnis nehmen muss, den man nicht mehr zumachen kann. Ich würde sogar sagen, dass jeder geistig gesunde Mensch sich über die Existenz dieses diskursiven Raums freuen sollte; dann wird man sehen, zu welchen Schlußfolgerungen er uns führt.

Raoul Weiss: Sie sind ein Wirtschaftswissenschaftler, aber einer, der dazu fähig ist, über die Thematik Wirtschaft hinaus zu denken, der auch über das Schicksal von Menschengemeinschaften nachdenkt. Wenn man für die Öffentlichkeit diese Überlegungen mit zwei Worten zusammenfassen möchte, wäre das Ergebnis wahrscheinlich: László Bogár, ein Denker von rechts. Was mich allerdings betrifft, der zahlreiche ihrer Artikel gelesen und viele der Fernsehsendungen verfolgt, an denen Sie teilnahmen, habe ich den Eindruck, dass Ihre Perspektive in vielen Punkten von derjenigen des Mainstreams der europäischen Rechte bzw. des ungarischen Fidesz abweicht – bzw. zumindest von der Doktrin der „ersten Fassung“ des Fidesz der Jahre 1990-2000. Wenn Sie z.B. im Vorwort Ihres letzten Werkes schreiben, dass die Ungarn der 1950er Jahre aus spiritueller, moralischer und intellektueller Sicht in weit besserem Zustand waren als alle nachfolgenden Generationen. Angesichts von solchen Behauptungen ist es für mich selbstverständlich, dass man sich einerseits vom „primitiven Antikommunismus“ entfernt, und dass man es andererseits tut, um auf eine Kritik der Modernität zu münden, die über das Credo des bürgerlichen Ungarns hinausgeht. In der Tat sind Sie ein lebendes Beispiel dieser paradoxalen Wahrheit, die wir zu verbreiten versuchen: ideologisch betrachtet ist dieses „illiberale“ Ungarn viel offener als die zeitgenössischen westlichen Gesellschaften, die von einer immer bedrohlicheren Einmütigkeit dominiert werden.

László Bogár: Bemerkenswerterweise stimmt das alles. Der Grund dafür ist zweifelsohne eine Chance, die mir gegönnt wurde – seit 16 Jahren wurde ich dem direkten Einfluss der politischen Verantwortung nicht mehr ausgesetzt. Infolgedessen ist alles, was ich sage oder schreibe, nicht unmittelbar der Ausdruck einer etwaigen politischen Strömung, sondern davon, dass ich mich selbst und die andern zwingen möchte, die laufenden Prozesse in der Welt und in unserem Ungarn mit einer aufmerksamen Sensibilität zu betrachten. Lassen wir uns den Mut haben, immer wieder uns selbst zu betrachten, und Mut zur Selbstkritik zu haben. Es gibt eine Theorie der Medien – selektive Apperzeption genannt –, die besagt, dass wir, aus Energiespargründen – wir alle –, dazu neigen, nur auf die Inhalte aufmerksam zu sein – sei es im Radio, im Fernsehen, in der Zeitung usw. –, die unsere Überzeugungen bekräftigen; und den Rest nehmen wir nicht einmal wahr. Was ziemlich bedauerlich ist, insofern es dazu führt, dass man nach einer Weile Scheuklappen trägt bzw. fühlt, dass etwas nicht stimmt (…), was dazu wiederum führt, dass man alles hinschmeißt. Ich weiß wohl, dass es sehr schwierig ist und sogar oft riskant. [Trotzdem] ermutige ich an der Unimeine Studenten immer wieder zu vermeiden, ständig gemäß einer Doktrin zu denken, obschon der Hochschulunterricht insgesamt dazu neigt, sie zu indoktrinieren, was mich öfters höchst traurig macht. Ich versuche also bei Kräften, mit meiner friedlichen Art, einen unaufhörlichen Kampf zu führen, damit wir weiterhin dem entsprechen – um es nun mit den Worten einer tiefen Philosophie auszudrücken –, was die einzige Mission des Menschen ist: das Gesamte der Existenz zu verstehen und sich in harmonischer, geduldiger, friedlicher und bescheidener Weise in dieser schließlich verstandenden Existenz einzubetten.

Raoul Weiss: Ich möchte Sie also fragen: Werden diese Haltung der Öffnung und diese Aufrichtigkeit auf der Suche nach der Wahrheit sich langfristig in der politischen Sphäre, wie sie heute konfiguriert ist – sprich vorwiegend nach dem Paradigma „links gegen rechts“ –, überhaupt behaupten können oder denken Sie, dass ein Paradigmenwechsel [notwendig sein wird]?

László Bogár: Ein solcher Wechsel scheint mir unvermeidlich, insofern es auch weltweit notwendig ist. Schauen Sie sich die Karriere von Steve Bannon an: wie schien er aus dem Nichts zu kommen um dann wieder dorthin zu gelangen (hoffentlich ist das bloß ein Eindruck, denn seine Erscheinung hat weiterhin eine große intellektuelle Bedeutung); wie dem auch sei, hat man gesehen, wie er sich spektakulär dem genähert und genauso wieder entfernt hat, was ihm hätte erlauben können, einen nicht nur intellektuellen sondern auch institutionellen Einfluss auszuüben. Er ist der intellektuelle Urheber des Narrativs, das Donald Trump aus dem Nichts und der Verzweiflung geholt und in den Präsidentensessel gebracht hat. Und gerade deshalb ist er auch der erste gewesen, der in Ungnade gefallen ist. Doch das ist bloß ein zusätzlicher Symptom dafür, dass es heutzutage auf dieser Seite ist – bei den Rechten, im bürgerlichen Lager, im Lager des Volkes, im nationalen, konservativen, christlichen Lager, bzw. das alles zusammen –, dass die titanische intellektuelle Arbeit sowohl in harmonischer wie konflikbeladener Kombination stattfindet, die ein neues mehr oder weniger einheitliches bzw. mehr oder weniger buntes Narrativ hervorbringen soll, das in der fundamentalen Interpretationslogik der Existenz in der Lage sei, das neue weltweite Narrativ zu liefern. Das ist freilich im Moment ein noch weit entferntes Ziel und nichts garantiert, dass es je erreicht werde, aber aus intellektueller Sicht ist es eine ständige Anstrengung, die man bemerken muss; dazu muss man hinzufügen, dass wir in einer Welt leben, wo der Kampf um die Interpretation der Fakten, der Wahrheit und der Wirklichkeit eine in der Geschichte nie da gewesene Intensität und Visibilität erreicht hat. Man kann sagen, dass es vielleicht 2500 Jahre her sind – seit dem antiken Griechenland –, dass man eine so offene und alltägliche Infragestellung von Fakt, Wahrheit und Wirklichkeit gesehen habe.

Die derzeitige Situation ist die, dass die Menschheit intellektuell ins vollkommenste Chaos hinfährt (…). Wir stellen einmal mehr die Verlogenheit des Werkzeugs fest – von der Axt aus Feuerstein bis hin zu Facebook: es kann das Instrument des Aufbaus und der Heilung sein, aber auch der Zerstörung und der Degeneration. Welches der beiden Szenarien die Oberhand letztendlich gewinnen wird, hängt im wesentlichen von der Entwicklung des derzeit laufenden weltweiten geistigen Bürgerkriegs ab: welches der konkurrierenden Narrative wird in der Lage sein, die Mehrheit der Bevölkerung zu überzeugen, dass man sich doch in die eine oder andere Richtung engagieren soll, da die anderen Narrative – was derzeit sogar sichtbar wird – die Menschheit zu ihrem Ruin führt, und zwar sogar aus ökologischer Sicht (…) Der Gipfel ist dabei, dass manche dieser trügerischen Narrative eben behaupten, eine Lösung für das Umweltproblem zu liefern. Vergessen wir nicht, dass man unter den Geldgebern von Greenpeace manche der schlimmsten Umweltsünder des Planeten wiederfindet. Nun wohnen wir dem gleichen Prozess in der geistigen Sphäre bei, da es ja nicht nur eine Natur sondern zwei gibt: die eine ist die äußere Natur des Menschen, und die andere seine innere, geistige, moralische und intellektuelle Natur. In der einen wie in der anderen nehmen wir am geistigen Pendant eines weltweiten Schachspiels teil, das gleichzeitig eine Art Billardspiel ist.

Raoul Weiss: Wenden wir uns nun bitte einen Moment nach links. In Ungarn – zumindest von Frankreich aus betrachtet – ist man erstaunt zu sehen, wie die regierungsnahe Presse die Gewohnheit habe, die schlimmsten Feinde des Fidesz-Ungarns als „Marxisten“ zu bezeichnen – seien es nun die MSZP-nahen Kreise (die in der Tat die Erben einer Einheitspartei sind, die sich selbst „marxistisch-leninistisch“ nannte), die ziemlich unklassifizierbaren Umweltschützer der LMP, die Ultraliberalen à la Macron von Momentum, oder sogar eventuell die Jobbik seit ihrer „LGBT-Wende“. Was mich betrifft, habe ich Marx gelesen und ich habe öfters den Eindruck, dass László Bogár Marx besser verstanden habe als, sagen wir, Gáspár Miklós Tamás (Professor bei der ZEU und bedeutende Figur der Anti-Fidesz-Demonstrationen), der jedoch offensichtlich Marx auch soll gelesen haben. Allerdings scheint dessen wirkliche Ideologie (eine Feststellung, die für alle hier oben erwähnten Oppositionsbewegungen gelten kann) überhaupt nicht dem klassischen Marxismus sondern eher dem radikalen z.B. von Jonathan Israel befürworteten und studierten Illuminismus zu entsprechen. Andererseits kommt es natürlich nicht in Frage zu behaupten, dass László Bogár dagegen ein Marxist sei; doch vielleicht wäre es an der Zeit die – in der französischen Philosophie schon länger übliche – folgende Unterscheidung in Ungarn heimisch zu machen: zwischen Marxisten (die Leser von Marx, die seinem revolutionären Programm zustimmen) und Marxianern (diejenigen, die Marx gelesen haben und konzeptuell Kapital aus seiner Analyse schlagen, ohne jedoch zu Marxisten zu werden)?

László Bogár: Es wird eine Anekdote über Marx erzählt – sie mag echt sein oder nicht, aber immerhin lebt sie schon länger: Marx, der übrigens ein Choleriker war, wird wütend und erklärt, dass er auf keinen Fall ein Marxist sei. Bis zu seinem Lebensende versuchte er geistig flexibel zu bleiben, indem er sich Widersprüche aneignete und bei Bedarf seine eigenen Ansichten anpasste. Man muss es anerkennen: Marx war wirklich ein Denker. Aus diesem Standpunkt heraus muss man – auch wenn man keine seiner Ansichten annehmen würde – trotzdem anerkennen, dass er eine bemerkenswerte intellektuelle Erscheinung war. Was mich am meisten von Marx trennt – dessen Analysen mich allerdings immer zum Nachdenken gebracht haben –, sind das seine Jugendschriften aus seiner journalistischen Periode, die einen Marx zeigen, der eigentlich nichts gegen den Kapitalismus habe, der absolut nicht gegen die Modernität, gegen die Modernisierung sei – ganz im Gegenteil!… Diese Passagen, wo er keinen Zweifel daran lässt, dass für ihn der Kapitalismus eine fundamental positive Funktion ausübe. Wenn Letzterer zuerst geistig, dann materiell die traditionnelle Sakralität vollends ruiniert, die er als seinen größten Feind betrachtet, freut er sich darüber ohne zu zögern. Und das macht er im Deutschland des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts! Das trennt mich frontal von dessen Gedanken.

Aber kommen wir auch auf den „dialektischen Materialismus“ zurück (das ist der Name, unter dem man in der kommunistischen Zeit den Marxismus an den ungarischen Universitäten unterrichtete): mir suggeriert die dialektische Interpretation der Geschichte genau das Gegenteil. Was mich betrifft, ist es die „Aufklärung“, die ich als methodischen Prozess des geistigen Obskurantismus ansehe. Und – auch wenn das Argument demagogisch erscheinen mag – erlauben Sie mir festzustellen, dass 95% der Touristen, die Europa besichtigen – kommen sie selbst aus Europa oder von auswärts –, wenn sie Städte besichtigen, suchen sie Produkte aus der dunklen Zeit vor der Aufklärung, aus der Zeit der Kathedralen und weit weniger aus den darauffolgenden Epochen – was, meiner Meinung nach, Bände spricht. Auch wenn wir keinen anderen Einwand gegen die herrschende Meinung zu formulieren haben, wäre es doch die Mühe wert, darüber nachzudenken: wie lässt sich dieses Faktum mit der allgemeinen Meinung vereinbaren, dass es zuerst ein dunkles, schreckliches und unmenschliches „Mittelalter“ gegeben habe, gefolgt von einer wunderbaren Zeit, wo alle glücklich waren, weil die Menschheit dann die Zeit des immerwährenden Friedens, des Wohlstands und des Glücks erreicht habe – am Ende deren gemäß der Wahrsagung von Fukujama der Triumph des liberalen Kapitalismus all unsere Probleme im Handumdrehen erledige.

Wenn es eine Dialektik der Geschichte gibt, so neige ich dazu, je älter ich werde, Spengler Recht zu geben, der im Untergang des Abendlandes keine Gelegenheit auslässt, um zu betonen, dass die Geschichte als solche weder Ziel noch Richtung habe bzw. haben könne. Was es gibt, sind Kulturen, gewaltige Geistesblitze, riesige kulturelle Leistungen, während deren der Mensch in einer gewissen Konfiguration des Seins, durch Anwendung von gewissen iterativen Grundmustern und fraktalen Strukturen atemberaubend fantastische Leistungen schaffen kann, wie z.B. die Zeit der Kathedralen. Dann, wie alles Lebende erreicht man einen Gipfel, wird fauler, härter, schwerer. Es ist übrigens der Hauptgrund, der ihn dazu führt, zwischen Kultur und Zivilisation zu unterscheiden: das Abendland hat unter der Form einer sakralen Kultur angefangen. Es dauerte – sagen wir – sechs Jahrhunderte – diejenigen der Romanik und Gotik in der Architektur – und dann aus irgendeinem Grund hat sich die Maschine festgefahren. An diesem Moment ist das Abendland so eingebildet, dass es zum Parasit wird. Da es keine neuen kulturellen Leistungen hervorbringt, fängt es an, sich selbst zu schmarotzen, dann entdeckt es immer mehr Mittel um die anderen zu schmarotzen: es ist dann die Zeit der „großen Entdeckungen“ und der Kolonisation. Und am Ende stagniert es: offensichtlich hat das Abendland nicht mehr wirklich Lust sogar sich fortzupflanzen. Es lebt noch eine kurze hedonistische Phase, lebt von Auswegen, wird aber immer unglücklicher, immer schlechter gelaunt und immer degenerierter. Diese Phase ist leider das letzte Jahrhundert. Spengler prahlte nicht mit Vorhersagen. Er sprach allenfalls Anregungen aus. Er war kein Wissenschaftler. Sein Werk gehört eher zur philosophischen Poesie, die – wie man es sehen kann – tiefere Schichten erreicht. Indem er auf der Ebene der Instinkte, der Ahnungen und Anregungen bleibt, erzeugt er in der Tat ein treueres Bildnis dieser unter dem Namen Abendland bekannten Wesenheit. Wenn es in der Folge eine Dialektik der Geschichte gibt, wenn sie irgendwelche Richtung bzw. irgendwelchen Anschein eines Zieles besitzt – was ich immer weniger glaube –, dann kann die Antwort nur diejenige sein, die Spengler ausspricht: wenn eine große Kultur sich in der Aufbauphase befindet, bemühen sich alle – vom Einzelnen bis hin zu den mehr oder weniger breiten Kollektiven – geistig mit allem beizutragen, was sie nur können. Dann versucht man während einer gewissen Zeit, das alles aufrechtzuerhalten. Und dann, nach einer gewissen Zeit – um einen Vers von Attila József umzuschreiben – „alles was ist, fällt auseinander“. Auf der Skala der Entropie gibt es kein [Zurück]. Alles, was in dieser Welt lebt, muss am Ende untergehen. Solange [eine Kultur] eine geistige Kraft behält, die Kraft, die ihr ermöglicht, Ordnung aufrechtzuerhalten – dadurch versteht man natürlich die Ordnung der Sakralität – und diese zu einem immer höheren organisatorischen Stand zu bringen, macht sie weiter Fortschritte und bleibt wirklich wertvoll und aufsteigend; doch ab dem Tag, wo es nicht mehr funktioniert,… Es ist auch der Fall in unseren [individuellen] Leben: offensichtlich erreichen sie einen Gipfel, das ist der Moment, wo wir theoretisch aller – sowohl physischen wie geistigen – Erfolge fähig sind, die der Mensch in dieser Welt überhaupt leisten kann. In der Praxis ist es ein Punkt, den wir meistens nicht erreichen, aber es gibt immer einen Höhepunkt, nach dem wir uns gehen lassen und das ist auch nicht überraschend. Der Mensch stellt sich immer vor, dass alle sterben und nur er ewig leben werde. Die Reiche ebenfalls, die Organisationsmodi des Seins, und die großen Kulturen zeigen diese Neigung, sich als unsterblich vorzustellen. Allerdings, wage ich zu sagen, ist nichts ewig außer die Veränderung. Das Wesentliche der Veränderung ist aber in Zyklen voranzukommen: Entstehung, Geburt, Aufstieg, Untergang, Zusammenbruch, Zerstörung – und dann im glücklichsten Fall, Rückkehr zum Humus, wo neues Leben wird keimen können. Ich mag glauben, dass im Latein die Wörter humus (Erde), homo (Mensch, Menschheit) und humilis (bescheiden) aus der gleichen Wurzel herleiten. Ich hoffe, dass dieser Zusammenfall des Menschen, der Erde und der Bescheidenheit in dieser oder jener archaischen Schicht der Sprache kein Zufall sei.

László Bogár (links) und Raoul Weiss (rechts) Ende November 2018 in Budapest. Bild: Visegrád Post.