Auszug aus einem Interview mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán in der Sendung „Nachrichten am Sonntag“ am 4. Oktober 2020 bei Radio Kossuth:
Frage: Diese Woche veröffentlichte die Europäische Kommission ihren Bericht über die Achtung der Rechtsstaatlichkeit durch die 27 Mitgliedsstaaten. Ungarns Justizministerin Judit Varga hat das Kapitel über Ungarn als absurd und falsch bezeichnete. Was halten Sie von diesem Bericht?
Viktor Orbán: (…) Ich möchte an sich nur sagen, dass Sie sich die Chronologie der Ereignisse ansehen müssen, um eine vollständige Sicht zu erhalten. Die Europäische Kommission veröffentlichte zunächst einen neuen Einwanderungsplan, der sich zumindest in dieser Form für die Visegrád-Gruppe, auch für Ungarn, schnell als inakzeptabel erwies. Dann startete die Vizepräsidentin der Kommission [Věra Jourová, zuständig für Werte und Transparenz , Anm.d.Red.] einen sehr scharfen Angriff gegen Ungarn, der bis zur Beleidigung ging [in einem am 25. September veröffentlichten Interview von Der Spiegel, Anm.d.Red.]. Was uns auffiel, war nicht so sehr ihre oft zitierte Aussage, Ungarn sei eine „kranke Demokratie“, denn solche Sprüche hört man immer wieder. Es waren auch nicht die Angriffe gegen mich, denn über mich wurden auch schon schlimmere Dinge gesagt. Ich bin daran gewöhnt und es betrifft mich nicht besonders. Sie sagte aber auch, dass die Ungarn sich keine unabhängige Meinung bilden können. Mit anderen Worten, sie behauptete, die Ungarn seien Dummköpfe. Das ist inakzeptabel. Sie hat damit eine rote Linie überschritten: Ein Spitzenbeamter der Europäischen Union darf nicht respektlos über die Bürger eines Mitgliedstaats sprechen, und dies gilt auch für Ungarn. Wenn sie dasselbe über Frankreich oder Deutschland gesagt hätte, wäre sie sofort gefeuert worden. Der einzige Grund, warum sie noch im Amt ist, ist der, dass ein solches Verhalten gegenüber kleineren Ländern und insbesondere gegenüber Ungarn akzeptiert wird. Aber wir können das nicht akzeptieren. Wir wollen Gleichbehandlung. Man darf uns nicht ungestraft beleidigen, so wie man die Deutschen oder Franzosen nicht ungestraft beleidigen kann. Wir müssen uns nicht mehr gefallen lassen als sie, nur weil sie größere Länder sind. Nach diesem Angriff der EU-Kommissarin veröffentlichte die Kommission ihren Bericht [zur Achtung der Rechtsstaatlichkeit, Anm.d.Red.], den ich als Soros-Bericht betrachte. De facto sind, wenn ich mich recht erinnere, 12 der 13 dort zitierten Quellen Organisationen, die von George Soros finanziert werden. Daher können wir diesen Bericht nur als orchestrierten Angriff sehen, und wir halten das für inakzeptabel. Aus diesem Grund raten wir der Kommission unsererseits, ihre Befugnisse realistischer wahrzunehmen und auch die Herausforderungen wahrzunehmen, denen sich Europa gegenübersieht. Ganz Europa ist von einer Pandemie, einer globalen Epidemie, betroffen. In allen Ländern verschlechtern sich die Zahlen. Heute haben wir nur noch eine Aufgabe zu erfüllen: unsere Verteidigung zu organisieren. Wir müssen uns auf den Schutz der Gesundheit, Sicherheit und Arbeit der Menschen konzentrieren. Stattdessen greifen sie [bei der Europäischen Kommission, Anm.d.Red.] die Mitgliedstaaten an, indem sie das Thema Einwanderung wieder auf die Tagesordnung setzen, und lösen unverständliche Debatten über Rechtsstaatlichkeit aus. All dies trotz der Tatsache, dass wir eine Aufgabe zu erledigen haben: die Pandemie in Europa einzudämmen.