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Polnisches Verfassungsgericht verteidigt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegen den EUGH

Lesezeit: 4 Minuten

Polen – Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober hat Reaktionen ausgelöst, vor allem bei denjenigen, die die europäische Integration unter Umgehung demokratisch ratifizierter Verträge vorantreiben wollen. In den europäischen Medien gab es nach dem Urteil zahlreiche Fehlinformationen.

Die EU werde „alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente“ nutzen, um die europäische Rechtsstaatlichkeit zu schützen, die „das Herzstück der Union“ sei, sagte der belgische Justizkommissar Didier Reynders. Der Franzose Clément Beaune, Staatssekretär für europäische Angelegenheiten in der Regierung Castex, ist der Meinung, dass „es sich um eine äußerst ernste Angelegenheit handelt“, „es besteht die Gefahr eines De-facto-Austritts“ aus der EU, „es ist ein Angriff auf die EU“.

Wirklich?

Worum geht es dabei eigentlich?

Im vergangenen März hat der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, wie es die polnische Verfassung erlaubt, dem Verfassungsgericht seines Landes die Frage nach den Grenzen der Zuständigkeit des Gerichtshofs der EU vorgelegt. Es ging um die Frage, ob der EUGH seine Entscheidungen in Bereichen durchsetzen kann, die nach den EU-Verträgen nicht Gegenstand einer Souveränitätsübertragung waren und die im Widerspruch zur polnischen Verfassung stehen. Politiker wie Reynders und Beaune bezeichnen dies als Anfechtung des Vorrangs des europäischen Rechts vor dem nationalen Recht, aber in Wirklichkeit handelt es sich nur um eine Anfechtung der Fähigkeit des EUGH, seine eigenen Kompetenzen und die der anderen europäischen Institutionen ohne einen neuen Vertrag endlos auszuweiten.

Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts stellt weder den Vorrang des europäischen Rechts vor dem polnischen Recht noch die Zuständigkeit des EUGH in den Bereichen in Frage, in denen die von Polen ordnungsgemäß ratifizierten Verträge eine Übertragung von Zuständigkeiten vorsehen und in denen das europäische Recht im Einklang mit den Verträgen angenommen wurde.

Wie es im Text des Urteils des polnischen Verfassungsgerichts heißt, wurde nämlich festgestellt, dass „die Organe der Europäischen Union über die Grenzen der von der Republik Polen in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten hinaus handeln“, dass die Urteile des EUGH auf dem Grundsatz beruhen, dass „die Verfassung nicht das oberste Recht der Republik Polen sei“ und dass folglich „die Republik Polen nicht als souveräner und demokratischer Staat funktionieren könnte“, wenn diese Urteile umgesetzt würden.

Mit anderen Worten: Nach Ansicht des polnischen Verfassungsgerichts kann die Übertragung von Souveränität im Lichte der polnischen Verfassung nicht von den EU-Institutionen initiiert werden, da jede neue Übertragung von Souveränität Gegenstand eines vom Parlament und dem Präsidenten der Republik ratifizierten Vertrags sein muss.

Der Gegenstand des Rechtsstreits

Gegenstand des Rechtsstreits ist die Art und Weise, wie die Europäische Kommission und der EUGH den Artikel 19 Absatz 1 des EU-Vertrags auslegen, um die vom Parlament seit dem Regierungsantritt der PiS beschlossenen Reformen des Justizwesens zu beeinträchtigen. Der einschlägige Satz in Artikel 19 des EU-Vertrags besagt lediglich: „Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist“.

Seit einigen Jahren herrscht in Brüssel (und in Luxemburg, dem Sitz des EUGH) die Auffassung vor, dass alle nationalen Gerichte, die sich mit der Anwendung des Unionsrechts befassen, unter der direkten Aufsicht der Europäischen Kommission und des EUGH europäische Kriterien einhalten müssen. Diese Kriterien sind zudem schwankend und scheinen von den EU-Institutionen willkürlich angewandt zu werden, wie die nach 2015 von der Kommission und dem EUGH aufgestellte Forderung nach einer Mehrheit von Richtern und Staatsanwälten zeigt, die von ihren Kollegen in den nationalen Justizräten gewählt werden.

Auf der Grundlage dieser Argumentation hat der EUGH auf Antrag der Kommission in diesem Jahr mehrere Urteile gegen Polen erlassen. Diese Urteile gaben den nationalen Gerichten die Möglichkeit, die Verfassung und die vom polnischen Parlament verabschiedeten Gesetze zu missachten, wenn diese Gerichte der Ansicht waren, dass die Verfassung oder ein Gesetz nicht mit dem EU-Recht übereinstimme. Außerdem forderten sie, den nationalen Richtern die Befugnis zu geben, über die Legitimität anderer Richter zu entscheiden. Konkret wollte der EUGH jedem polnischen Richter das Recht zugestehen, ein Urteil nicht anzuerkennen, das von einem Richter erlassen wurde, der auf Empfehlung des reformierten Nationalen Justizrats nach 2017 ernannt wurde, also von Richtern, die nicht von ihren Kollegen, sondern vom Parlament ernannt wurden (wie es übrigens beispielsweise in Spanien seit den 1980er Jahren der Fall ist!).

Solche Entscheidungen des EUGH waren in der Geschichte der europäischen Integration völlig beispiellos, was das polnische Verfassungsgericht in seinem Urteil feststellt, in dem es heißt, dass „die Europäische Union, die aus gleichberechtigten und souveränen Staaten besteht und einen ‚immer engeren Zusammenschluss der Völker Europas’ bildet, deren Integration – auf der Grundlage des Rechts der Europäischen Union und durch dessen Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union – ein ‚neues Stadium’ erreicht“.

Präzedenzfälle

Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts ist nicht überraschend. Ungeachtet von Herrn Reynders und Herrn Beaune ist des nicht das erste Mal, dass ein Verfassungsgericht sich gegen die Aneignung nationaler Kompetenzen durch den EUGH wendet. Das rumänische Verfassungsgericht hat in diesem Jahr bereits ein ähnliches Urteil in einem ähnlichen Fall gefällt, in dem der EUGH den rumänischen Gerichten das Recht zugestanden hatte, sich über die nationale Verfassung und die nationalen Gesetze hinwegzusetzen, wenn sie diese für europarechtswidrig hielten. Im vergangenen Jahr hatte das Bundesverfassungsgericht auch ein Urteil des EUGH zum Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB mit der Begründung angefochten, dass der EUGH nach Ansicht der Karlsruher Richter seine Entscheidung unter freiwilligem Verzicht auf bestimmte Bestimmungen der EU-Verträge getroffen habe. Die deutschen Richter hatten daran erinnert, dass die EU-Mitgliedstaaten Herren der Verträge bleiben. In Frankreich hat sich der Staatsrat mehrfach gegen die Urteile des EUGH ausgesprochen, und in einem Fall vom Juli dieses Jahres erklärte das Verteidigungsministerium (und wiederholte dies im September), dass es nicht beabsichtige, das Urteil des EUGH zur Arbeitszeit des Militärpersonals anzuwenden, da die Verteidigung in die nationale Zuständigkeit falle.

In Polen war die Bedeutung des Urteils des Verfassungsgerichts selbst wenig zweifelhaft, da es lediglich eine Rechtsprechung bestätigt, die bereits vor der Machtübernahme durch die PiS von demselben Gericht aufgestellt wurde und der zufolge die nationale Verfassung das oberste Gesetz der Republik Polen bleibt.

Wenn die EU Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht mehr respektiert

Infolgedessen muss jede Abgabe von Souveränität nach dem in der Verfassung vorgesehenen Verfahren und nicht durch eine Entscheidung der Richter in Luxemburg erfolgen. Das nennt man Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, im Gegensatz zur Diktatur der Richter.

Deshalb ist es falsch zu sagen, dass das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts der Beginn des Austritts Polens aus der EU sei. Der polnische Ministerpräsident betonte nach der Veröffentlichung des Urteils erneut das Engagement Polens in der EU, sagte aber auch: „Das Verfassungsrecht ist anderen Rechtsquellen übergeordnet. Dies wurde in den letzten Jahren auch von den Verfassungsgerichten vieler Mitgliedstaaten bestätigt. […] Wir haben die gleichen Rechte wie andere Länder. Wir wollen, dass diese Rechte geachtet werden. […] Und deshalb akzeptieren wir nicht, als Land zweiter Klasse behandelt zu werden. […] Wir wollen eine Gemeinschaft des Respekts, nicht eine Vereinigung mit gleichen Mitgliedern und anderen, die gleicher sind als die ersten.“

Wird er von der Europäischen Kommission angehört werden, die eine sehr spezielle Vorstellung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Richter zu haben scheint? Seit mehreren Monaten blockiert die Kommission die Mittel aus dem Europäischer Aufbauplan Next Generation EU für Polen in einer Weise, die europarechtlich schwer zu rechtfertigen ist. Auf diese Weise hoffte sie offen, die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts über die Grenzen der Zuständigkeit des EUGH zu beeinflussen.