Von der Redaktion.
Ungarn – Lange Zeit als die radikalste parlamentarische Partei betrachtet ist die Jobbik in einigen Jahren zu einer liberalen pro-EU-Partei mutiert und hat ihre radikale Rhetorik gegen EU, NATO, LGBT bzw. Zigeunerkriminalität aufgegeben. Heute versucht die Jobbik, sich mit der liberalen und progressistischen Linke zu verbünden, mit dem Ziel Orbán zu stürzen. Hier ist die kurze Geschichte einer 180-Grad-Wende.
Nunmehr steht die Jobbik dazu, mit der Partei von Ferenc Gyurcsány gemeinsam zu demonstrieren, und besiegelt ihre Allianz mit der liberalen Linke in einer gemeinsamen Front gegen Orbán.
Die Prophezeiung des Fidesz hat sich doch bewahrheitet. Seit Jahren wurde es von Viktor Orbán, seiner Partei und den ihm nahestehenden Medien (mindestens seit 2016) vorhergesagt: die ehemalige radikal-nationale Partei Jobbik und die ungarische liberale Linke haben sich mit dem Zweck verbündet, die Regierung zu stürzen.
Vor den Parlamentswahlen vom April 2018 war es trotz zahlreicher Zeichen der Annäherung noch nicht 100%ig so weit. Seit dem 15. März 2019 ist es nunmehr offiziell.
Denn in der Tat, anlässlich der Feierlichkeiten des 15. März, wo der Jahrestag des Ausbruchs der ungarischen Revolution von 1848 gegen die Herrschaft der Habsburger gefeiert wird und während der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán seinen polnischen Amtskollegen Mateusz Morawiecki empfing, versammelten die bedeutendsten Oppositionsparteien ihre Anhänger für die Einrichtung einer breiten Front gegen den Fidesz.
Zum ersten Mal steht die Jobbik dazu, gemeinsam mit der Demokratikus Koalíció (DK) zu demonstrieren – die aus einer Spaltung der sozialistischen MSZP im Jahre 2011 entstanden ist –, der Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány (2004-2009), der lange Zeit der verhasste Feind der Jobbik war. Seit den Demonstrationen vom April 2018 nach dem erneuten Wahlsieg des Fidesz hatte die Jobbik zwar schon mehrmals gemeinsam mit der DK demonstriert, aber bisher ein Bündnis immer geleugnet.
Unter den anderen vertretenen Organisationen seien die sozialistische MSZP, die grüne Partei LMP, die liberale Bewegung Momentum bzw. der parteilose Bürgermeister von Neumarkt an der Theiß (Hódmezővásárhely) Péter Márki-Zay erwähnt, der einer der ersten gewesen ist, der offen eine Koalition von DK bis Jobbik befürwortete, um Orbán zu stürzen.
All diese Bewegungen haben sich verpflichtet, eine Strategie von gemeinsamen bzw. „unabhängigen“ Kandidaturen für die kommenden Gemeindewahlen im Oktober 2019 einzurichten, um einen Wahlsieg der Fidesz-Kandidaten zu verhindern.
Bevor sie ihre Kundgebung mit der europäischen Hymne abschlossen (siehe am Ende des Videos), ahmten die Demonstranten der vereinten Opposition die zwölf Forderungen der 1848er Revolutionären nach und formulierten ihre zwölf Forderungen unter dem Motto „Was will die ungarische Nation?“ wie folgt:
- Demokratie und Rechtsstaat;
- unabhängige Medien, Einstellung der öffentlichen Finanzierung von Propagandamedien;
- unabhängige Staatsanwaltschaften und Gerichte;
- vernünftige und legale Nutzung der öffentlichen Gelder, Vorgehen gegen korrupte Amtsträger;
- Steuergerechtigkeit, Abschaffung der zu großen Gehaltsunterschiede;
- Freiheit und Förderung für Wissenschaft, Kultur und Bildungswesen, Qualitätsunterricht im ganzen Land;
- würdige Gehälter und Arbeitsbedingungen, Erweiterung und Verwirklichung der Rechte der Arbeitnehmer;
- soziale Beratungen auf breiter Basis, u.a. mit den beruflichen Verbänden, Interessenvertretungen und Akteuren der Zivilgesellschaft;
- Qualitätsmedizin für jeden;
- Existenzsicherheit, Wohnung und stabile Zukunft für alle;
- Wirksames Vorgehen gegen die Klimakrise, Schutz unserer natürlichen Reichtümer und Schutz unserer Umwelt;
- Verteidigung der Werte unserer Nation und der Europäischen Union.
Die Bündnisversuche der unterschiedlichen Fraktionen der linksliberalen Opposition sind keine Neuigkeit. Dies wurde schon anlässlich der Parlamentswahlen 2014 unternommen, allerdings ohne die LMP und auch ohne nennenswerten Erfolg. Die Frage, ob die Jobbik sich einer solchen Koalition anschließen würde, stellte sich damals überhaupt nicht, da die gegenseitige Ablehnung der Linksliberalen und Rechtsextremen restlos war. Die Frage wurde 2018 offen gestellt, doch war das Thema noch nicht reif genug. Nunmehr sind sie vereint, um erneut zu versuchen, Orbán aus dem Amt zu drängen.
Wie hat die Jobbik eine solche Revolution durchmachen können? Ein Rückblick auf die politische Wende des Jahrzehnts.
Eine radikale Partei, die sich in den Wirren vom Herbst 2006 behaupten konnte.
Die Jobbik ist eine Partei, die 2003 auf der Basis einer 1999 gegründeten Studentenbewegung konstituiert wurde. Sie strebt anfangs danach die Nische des Nationalismus gegen eine andere nationalistische Partei zu besetzen: die MIÉP des Dramatikers István Csurka, die damals an Einfluss verliert.
Nach bescheidenen Anfängen schafft es die Jobbik, Kapital aus den Ereignissen vom Herbst 2006 zu schlagen, als eine für die Öffentlichkeit nicht bestimmte Rede des damaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány von der Presse enthüllt wird, in der er unverblümt die Lügen zugab, auf die er zurückgreifen musste, um bei den Parlamentswahlen vom April 2006 wiedergewählt zu werden.
Dieser außergewöhnliche Politskandal wird mehrere Konsequenzen haben:
- Unkontrollierte Unruhen finden im Herbst 2006 statt (man erinnere sich u.a., dass ein T34-Panzer während der Feierlichkeiten des 23. Oktober 2006 von einem oppositionellen Demonstranten entwendet wurde…), die von der Polizei brutal niedergeschlagen werden. Friedliche Demonstranten werden dabei angegriffen und sogar ein Fidesz-Abgeordneter, Máriusz Révész, wird dabei zusammengeschlagen.
- Die sozialistische Partei MSZP bricht zusammen und die liberale Partei SZDSZ, die eine Schlüsselrolle in der ungarischen Politik seit der Wende von 1989 gespielt hatte, verschwindet von der Szene.
- Der Fidesz dominiert nunmehr das politische Leben in Ungarn und gewinnt seit Oktober 2006 alle Wahlen.
- Der radikale Nationalismus wird bei den Wahlen erfolgreich.
Während der Fidesz auf den Rechtsstaat bedacht bleibt und es kategorisch ablehnt, sich 2006 an einem etwaigen Umsturz der Regierung außerhalb des legalen und demokratischen Rahmens zu beteiligen, gedeiht der radikale Nationalismus bei denjenigen, die Gyurcsány unverzüglich stürzen wollen.
In all diesen Jahren dient die Person Gyurcsány als Ventil für eine Bevölkerung, die über die Regierung empört ist und durch die Härte der Wirtschaftskrise getroffen wird, die erst 2006 und nochmals 2008 anlässlich der Weltkrise ausbricht. Damals rufen die Flugblätter der Jobbik ohne Umschweife auf, Gyurcsány ins Gefängnis zu stecken.
Die junge Partei Jobbik behauptet sich in dieser kalten Bürgerkriegsstimmung und erregt die Gemüter, indem sie 2007 eine unbewaffnete Bürgermiliz ins Leben ruft: die Ungarische Garde.
Unter der Führung ihres jungen Vorsitzenden Gábor Vona erreicht die Jobbik 15% bei den Europawahlen von 2009 und 17% bei den Parlamentswahlen von 2010. Bis zu den Erfolgen der Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) in Griechenland wird die Jobbik als die radikalste rechte Partei mit einer parlamentarischen Vertretung in Europa betrachtet.
Die Jobbik macht mehrmals auf nationaler und internationaler Ebene von sich reden, insbesondere wenn sie die Ungarische Garde in einigen Dörfern gegen die von ihr angeprangerte „Zigeunerkriminalität“ aufmarschieren lässt.
Es sind vor allem die antisemitisch konnotierten Entgleisungen, die die größten Skandale zur Folge haben. In diesem Zusammenhang wird ein Redebeitrag des Abgeordneten Márton Gyöngyösi im November 2012 im Parlament weltweit für Empörung sorgen und die Gemüter erregen.
Anlässlich einer Wortmeldung von einer Minute, bei der er den israelisch-palästinensischen Konflikt im Gazastreifen erörtert, beendet Gyöngyösi seinen Beitrag, imdem er erklärt: „Im Parlament und in der ungarischen Regierung, wie viele sind jüdischer Abstammung und stellen eine Gefahr für die nationale Sicherheit Ungarns dar?“
Der Aufschrei ist augenblicklich. Die Erklärung wird von allen anderen ungarischen Parteien verurteilt und es findet sogar eine Demonstration in Budapest statt, an der sich Politiker des Fidesz und der liberalen Linke beteiligen. Ende 2012 stuft das Simon Wiesental Center den Abgeordneten Gyöngyösi unter den zehn bedeutendsten Antisemiten in der Welt ein.
Die Jobbik wird ebenfalls mit einer völlig nach Osten gerichteten Orientierung überraschen: über den Austritt aus der EU (deren Fahne im Januar 2012 während einer Demonstration der Jobbik verbrannt wird) und der NATO hinaus, befürwortet die Jobbik ebenfalls engere Verbindungen mit Russland, aber auch mit der Türkei, mit der turanischen Welt (Turkvölker) und der muslimischen Welt.
Während der Demonstration, bei der die Fahne der Europäischen Union verbrannt wurde, war eine der Parolen das Schlagwort der Kampagne für den Nein beim Referendum von 2003 über den EU-Beitritt: „Seien wir [EU]-Mitglieder oder frei?“
Anfang der Entdämonisierung (2013)
Während die Jobbik gelegentlich für Skandal sorgt, schafft es die Regierung Viktor Orbáns zwischen 2010 und 2014 die öffentlichen Finanzen zu konsolidieren, die ihre Vorgänger in einem heiklen Zustand hinterlassen hatten, sie zahlt das von der vorigen Regierung aufgenommene IWF-Darlehen vorzeitig zurück, lässt eine neue ungarische Verfassung verabschieden und muss sich von nun an eine Kraftprobe mit Brüssel liefern. Seit seiner triumphalen Wahl 2010 ist die Popularität Orbáns bis heute ungebrochen.
Angesichts einer Radikalität, die an ihre Grenzen stößt, unternimmt der Jobbik-Vorsitzende Gábor Vona eine „Entdämonisierung“ seiner Partei. Diese Strategische Wende wird auf Ungarisch „Néppártosodás” genannt, was in etwa „Umwandlung in eine Volkspartei“ heißt.
Ende 2013 erklärte Gábor Vona, dass es innerhalb der Jobbik immer zwei Seiten, zwei Gesichter gegeben habe: das radikale Gesicht aber auch das gewöhnliche Gesicht, das von etwas klassischeren Leuten vertreten wurde, und dass es vielleicht ein Fehler gewesen sei, nur das radikale Gesicht der Partei in den Vordergrund gestellt zu haben, indem er klarstellte, dass es jene beiden „Gesichter“ der Partei immer nebeneinander gegeben habe, die weiterhin harmonisch innerhalb der Partei zusammenleben würden. Ferner sollte diese neue Kommunikationskampagne an den Grundlagen des Programms der Jobbik nichts ändern: Ungarn für die Ungarn, Lösung für das Problem des Zusammenlebens zwischen Ungarn und Zigeunern, Ablehnung der EU-Herrschaft über Ungarn.
Dieses Video vom Oktober 2013 stellt eine radikale Änderung der bisherigen Kommunikation der Jobbik dar. Das Schlagwort im Video behauptet, dass die Jobbik „schon die populärste [Partei] bei der Jugend“ sei.
Diese Entdämonisierung, die sich von anderen populistischen Parteien in Westeuropa inspirieren ließ, wurde allerdings damit konfrontiert, dass ihre Kader nicht entsprechend erneuert wurden, was dem Vorhaben eine begrenzte Glaubwürdigkeit bescherte. Im Vergleich wurde in Frankreich die Entdämonisierung des Front National durch einen Generationswechsel und durch die Wahl von Marine Le Pen an die Spitze der Partei verkörpert.
Bei den Wahlen von 2014 schaut die politische Landschaft in Ungarn weiterhin wie bisher: der Fidesz verteidigt seine breite Mehrheit von Zweidrittel der Parlamentarier, während die Jobbik leicht dazugewinnt und rund 20% der Stimmen erreicht, allerdings hinter der linken Koalition, die 25% der Stimmen bekommt.
Die große Umwälzung findet 2015 statt. Sie beginnt mit dem Zerwürfnis zwischen Viktor Orbán und Lajos Simicska, einem Geschäftsmann, der bisher dem Ministerpräsidenten nahestand und mehrere Medien besitzt. Simicska, der gewöhnlich eher diskret ist, beschimpft den Ministerpräsidenten öffentlich und säubert rücksichtslos seine Medien von allen Elementen, die der Regierung nahestehen – ohne dass die Liberalen in Ungarn und sonstwo sich darüber aufregen, dass Journalisten von einem Tag zum andern entlassen werden.
Nach diesem schwierigen Anfang setzt sich das Jahr 2015 für den Fidesz mit Niederlagen bei zwei Stichwahlen fort, was zum Verlust der Zweidrittelmehrheit im Parlament führt. Einer der beiden Wahlkreise (die Hälfte der ungarischen Abgeordneten wird im Verhältniswahlrecht auf einer Liste, und die andere Hälfte durch eine Mehrheitswahl in Wahlkreisen gewählt) wird von der Jobbik knapp (35% gegen 34%) erobert. Infolge dieser Wahlschlappen des Fidesz nähren die Oppositionsparteien und auch die Jobbik einige Hoffnungen für 2018.
Die Migrantenkrise wird die Karten neu mischen. In 2015 überqueren 400.000 Migranten illegal die serbisch-ungarischen Grenze auf der Balkanroute nach Westeuropa.
Das Migrantenchaos, das in Ungarn im Laufe des Jahres 2015 herrscht, lässt den Fidesz in den Umfragen fallen, während die Jobbik sich an die 30% der Wahlabsichten nähert. Zusammen mit den zwei kleinen Niederlagen des Fidesz am Anfang des Jahres erwirkt es, dass man in den Reihen der Jobbik anfängt, sich Hoffnungen zu machen. Doch mit Orbáns Reaktion war da nicht gerechnet worden.
Statt wie die anderen Transitländer zu handeln und das „Taxi“ für die Migranten zwischen der serbisch-ungarischen und der ungarisch-österreichischen Grenze zu organisieren, hält sich Orbán peinlich an das Schengener Abkommen: demgemäß sollen die Grenzstaaten des Schengenraums die Außengrenzen schützen. Er entscheidet sich für eine frontale Strategie. Er lässt einen Zaun auf der serbisch-ungarischen Grenze errichten, um den Strom der Migranten zu stoppen. Im September 2015 ist der Grenzzaun fertig.
Durch dieses Phänomen bzw. durch den Willen der EU beunruhigt, die Migranten unter allen Mitgliedstaaten zu verteilen, unterstützen die Ungarn massiv die Politik ihres Ministerpräsidenten bezüglich der Grenzsicherung und der Opposition gegen die von Brüssel geforderten Quoten. Die linke Opposition stellt sich ins Lager der Befürworter der Migration, während die Jobbik durch die Verschärfung des Diskurses vom Fidesz verdrängt wird, der auch anfängt, die Netzwerke George Sorosʼ zu kritisieren.
Orbán setzt seine Kampagne gegen Masseneinwanderung fort und organisiert im Oktober 2016 einen Volksentscheid gegen die Migrantenquoten. Das Quorum von 50% ist zwar nicht erreicht, doch ist die Beteiligung (43%) trotz des Boykottsaufrufs der Linke ziemlich hoch, und das Ergebnis ist klar: 98,36% der Wähler haben gegen die von Brüssel geforderten pflichtigen Migrantenquoten gestimmt.
Während des Wahlkampfs appelierten Fidesz und Jobbik (sowie die kommunistische Munkáspárt (Arbeiterpartei), die im Parlament nicht mehr vertreten wird), sich an der Abstimmung zu beteiligen und mit Nein zu stimmen. Die meisten linken Oppositionsparteien riefen dazu, die Wahl zu boykottieren, damit das Quorum nicht erreicht werde.
Die Jobbik hört allerdings nicht auf zu wiederholen, dass in dem Fall, wo das Quorum von 50% nicht erreicht werde, die Regierung zurücktreten solle. Vor dem Anfang des Referendumswahlkampfs hatte die Jobbik im Parlament eine Verfassungsänderung vorgeschlagen, um das Verbot der Ansiedlung von Menschen in Ungarn gegen den Willen der ungarischen Behörden in die Verfassung zu verankern. Dieser Vorschlag wurde vom Fidesz abgelehnt, der seine Strategie eines Referendums bevorzugte, die aus seiner Sicht den doppelten Vorteil brachte, seinen Rückhalt in der Bevölkerung zu stärken aber auch über eine demokratische Argumentation in seiner Konfrontation mit Brüssel zu verfügen.
Die einzige wirkliche aktive Teilnahme der Jobbik am Wahlkampf für das Referendum ist die eines Videos mit László Toroczkai, dem Bürgermeister der Grenzgemeinde Ásotthalom seit 2013, der durch seine Kommunikation gegen illegale Einwanderung berühmt geworden ist. Er ist 2016 dem Jobbik beigetreten und ist zum stellvertretenden Parteivorsitzenden geworden.
Trotz dieses Videos lässt allerdings die beinahe tägliche Wiederholung des Mottos, dass die Regierung im Falle eines Scheiterns des Referendums zurücktreten solle, daran denken, dass dies wohl der Wunsch der Jobbik sein könnte. An diesem Moment hat die Konfrontation zwischen Fidesz und Jobbik schon an Intensität gewonnen, und zwar wegen der Unterstützung des Oligarchen Simicska für die Jobbik.
Währenddessen finden 2016 einige interne Umbesetzungen innerhalb der Jobbik statt, wie die Ausschaltung von Előd Novák, eine Figur des Antisionismus und der Opposition gegen die EU. Jener ist ein Gegner der Strategie der Néppártosodás Gábor Vonas, der deshalb – trotz des Votums der Parteimitglieder – sein Veto gegen Nováks Wiederwahl zum stellvertretenden Parteichef einlegt. Kurz darauf wird er von der Jobbik-Fraktion aufgefordert, sein Mandat zur Verfügung zu geben, was er dann auch tut und wird aus allen Parteiämtern entlassen. Die Aufnahme von László Toroczkai ermöglicht, diese Ausschaltung auszugleichen und die politische Strategie Viktor Orbáns zu kontern, der das Thema Einwanderung zum Hauptthema seiner Kommunikation macht. László Toroczkai, der ein radikaler Nationalist und der Gründer mehrerer militanten nationalistischen Organisationen ist, beruhigt die nationalgesinnte Wählerschaft der Jobbik.
Allerdings ermöglicht die Ausschaltung Nováks, einen internen Riegel aufzusprengen, um eine Strategie einzurichten, die weit über eine bloße Entdämonisierung hinausgeht.
Um jeden Preis gegen Orbán.
Da Orbán nun entschlossen „nach rechts rudert“, versucht die Jobbik ihn nunmehr von links bzw. mit übertriebenen Kampagnen gegen Orbán und Fidesz zu überholen.
Infolge des Referendums über die Quoten von Migranten legt Orbán eine Verfassungsänderung zu dieser Frage vor. Der Fidesz berfügt nicht mehr über die Zweidrittelmehrheit und kann daher das Gesetz nicht allein verabschieden. Dafür braucht er die Unterstützung der Abgeordneten der Jobbik, was letztere in eine heikle Situation bringt. Wie die französische Zeitschrift Causeur dies formulierte, „hat der Politprofi Orbán die Jobbik zu einer schweren Wahl gezwungen: entweder ihn unterstützen oder Partei für das Ausland ergreifen.“
Gábor Vona versucht also zu pokern: er beschuldigt die ungarische Regierung, einen legalen Einwanderungskanal durch den Verkauf von Schatzanweisungen (ung. Letelepedési Magyar Államkötvény) eingerichtet zu haben, die es reichen ausländischen Investoren ermöglicht, ein Schengenvisum zu erhalten, wenn sie ungarische Schatzanweisungen kaufen.
Er erklärt, dass die Parlamentarier der Jobbik der vorgeschlagenen Verfassungsänderung nur zustimmen werden, wenn die Gewährung von Visen gegen den Kauf von Schatzanweisungen suspendiert werde. Doch gibt Orbán der Erpressung der Jobbik nicht nach, die der Verfassungsänderung nicht zustimmt, die dadurch im Parlament an der notwendigen Zweidrittelmehrheit scheitert. Einen Monat nach dem Mißerfolg beim Referendum spricht die ausländische Presse erneut von einer neuen Schmach für Orbán.
In Wirklichkeit hat es Orbán geschafft, sich in den Augen der ungarischen Öffentlichkeit als der einzige Schutz gegen die illegale Masseneinwanderung zu inszenieren und sämtliche Oppositionsparteien – auch die Jobbik – in das Lager der Migrationsbefürworter zu drängen.
Ab diesem Moment kommt es zum offenen Krieg zwischen Fidesz und Jobbik. Die Position der Jobbik, die subtil sein wollte, wird von der Kommunikationswalze des Fidesz und seiner Vorfeldorganisationen aus dem Weg geräumt. Es wird die Beschuldigung eindringlich wiederholt, dass die Jobbik de facto zum Partner der liberalen Linke geworden sei.
Dabei gewinnt die Jobbik allerdings einen Vorteil: während sie angeblich bei ihrer migrationsfeindlichen Rhetorik bleibt, strengt sie sich auch an, um in den Augen der liberalen Wähler als die entschlossenste Opposition gegen Orbán zu erscheinen.
Andererseits startet sie dank des Plakatnetzwerks von Lajos Simicska „Anti-Korruptions-Kampagnen“ gegen den Fidesz und lässt in ganz Ungarn plakatieren, dass Orbán unehrlich und korrupt sei. Das Säbelrasseln zwischen Vona und Orbán im Parlament ist dabei ganz besonders heftig.
Kárikittyom, korrupt Viktor, mehetünk a börtönbe!
Ezt hallanod és látnod kell! Egy modern népmese, aminek a végén a rossz elnyeri méltó büntetését. OSZD MEG!
Publiée par Jobbik Magyarországért Mozgalom sur Lundi 22 mai 2017
Wahlkampfvideo der Jobbik, in dem Viktor Orbán von Gábor Vona ins Gefängnis gebracht wird.
Bei den internationalen Fragen kommt es dann auch bei der Jobbik zu einer schwerwiegenden Neuorientierung. Ab 2016 spricht die Jobbik nicht mehr von Austritt aus der EU sondern bloßvon einer Reform derselben. Vier Jahre davor hatten ihre Mitglieder noch deren Fahne öffentlich verbrannt.
Márton Gyöngyösi, der bisher dafür bekannt war, ein Gegner der NATO zu sein und nach Osten zu blicken, ging soweit um in einem Interview mit dem Courrier d’Europe Centrale zu behaupten, dass „egal wo sie hingehen, alle Nationalisten, Extremisten und Russland-Freunde in Europa begrüßen Orbán und sehen in ihm ein Vorbild.“ Anschließend erklärte er im gleichen Interview, dass es nicht die Jobbik sei, die eine Gefahr für die Demokratie darstelle, sondern die Macht des Viktor Orbáns.
Was den Turanismus bzw. die Leidenschaft für die Türkei betrifft, so werden sie allmählich beiseite gelegt, ohne ausdrücklich abgeschworen zu werden.
Und auch bei den Gesellschaftsfragen orientiert sich die Jobbik radikal neu:
- Die Jobbik erklärt im Namen der Verteidigung der öffentlichen Rechte, die unter der Regierung Orbáns stark gelitten hätten, dass sie die Gay Pride nicht mehr verbieten wolle.
- Die Jobbik unterstützt die Abgeordneten der liberalen Linke, um vor dem Verfassungsgericht gegen ein Gesetz bezüglich der von George Soros finanzierten Zentraleuropäischen Universität (CEU) zu berufen.
- In einem im März 2018 einem lokalen Fernsehsender gewährten Interview, das von dem liberalen Oppositionsmagazin HVG aufgegriffen wird, wird der Abgeordnete und Jobbik-Sprecher Ádám Mirkóczki sogar behaupten, dass die Rhetorik der Jobbik vor 2010 nicht echt gewesen sei und dem Standpunkt der Partei nicht entsprochen habe. Er fügte hinzu, dass Viktor Orbán die Jobbik zur Bewegung gemacht habe, die sich am meisten um die Demokratie Sorgen mache, und dass man ihm deswegen danke solle. Darauf antwortet der stellvertretende Vorsitzende der Jobbik, László Toroczkai, lakonisch auf seiner Facebook-Seite: „Es ist nicht in meinem Namen, dass Ádám Mirkóczki erklärt hat, dass die Rhetorik vor 2010 nicht echt gewesen sei.“
Diese Strategie der Jobbik, die innerhalb der Partei nur von László Toroczkai kritisiert wurde, scheint bezüglich der Popularität der Bewegung keine Früchte zu tragen, denn lt. Umfragen bleibt die Jobbik weiterhin wie gewöhnlich um die 15-20%.
Ein unerwartetes Ereignis wird der Opposition wieder Hoffnung geben: am 25. Februar 2018 (sechs Wochen vor den Parlamentswahlen vom April 2018) findet eine Gemeindenachwahl in Neumarkt an der Theiß (Hódmezővásárhely) statt, in der ein unabhängiger Kandidat, der sich als ein vom Fidesz enttäuschter Konservativer selbst beschreibt, Péter Márki-Zay, die Unterstützung aller Oppositionsparteien (von der DK bis zur Jobbik) erhält und diese Wahl auch mit 57% der Stimmen gegen 41% für den Fidesz-Kandidaten gewinnt.
Dieser Überraschungssieg lässt die Möglichkeit erblicken, dass es im Falle einer Koalition aller Oppositionsparteien in den Wahlkreisen dann auch möglich werde, den Fidesz zu besiegen.
Die Zeit ist aber für 2018 noch nicht reif und die Jobbik lehnt es ab, irgendeinen seiner Kandidaten in den 106 Wahlkreisen des Landes zurückzuziehen, doch ruft sie allerdings die liberalen Wähler auf, für den Jobbik-Kandidaten zu stimmen, wenn dieser als der geeignetste erscheint, um den Fidesz-Kandidaten zu schlagen (besonders auf dem Land, da die Jobbik in Budapest schwächer ist).
Die Jobbik erklärt dann bereit zu sein, nach den Wahlen eine Koalition mit der grün-liberalen LMP und den jungen Liberalen von Momentum bilden zu wollen, aber jegliche Zusammenarbeit mit der MSZP oder der DK von Ferenc Gyurcsány abzulehnen.
Zur Überraschung aller Beobachter ergeben die Parlamentswahlen von 2018 erneut eine verfassungsmäßige Zweidrittelmehrheit für den Fidesz. Was die Jobbik anbelangt, so stagniert sie bei 19% in zweiter Position weit hinter den 49% des Fidesz. Die Strategie der „nützlichen“ Stimmabgabe scheitert ebenfalls, denn die Jobbik ergattert nur ein einziges Direktmandat.
Eine Spaltung, die es der Jobbik ermöglicht, die Strategie der gemeinsamen Front gegen Orbán einzurichten.
Gábor Vona hatte versprochen, dass er sich im Falle einer erneuten Wahlniederlage aus der Spitze der Jobbik zurückziehen würde. Er tritt ebenfalls von seinem Mandat im Parlament zurück und rekonvertiert sich als Videobloger, der weiterhin den Dialog und den Bau von Brücken zwischen allen Oppositionsparteien befürwortet, um den Fidesz und Viktor Orbán zu stürzen.
Für Vonas Nachfolge treten zwei Kandidaten gegeneinander auf: Tamás Sneider und László Toroczkai. Beide haben eine radikale Vergangenheit: Sneider ist als ehemaliger Skinhead-Anführer aus den 1990er Jahren bekannt, während Toroczkai eine Figur der Unruhen von 2006 gewesen ist.
Jeder Kandidat bildet ein „Ticket“ mit einem zweiten Kandidaten, der zum stellvertretenden Parteichef werden soll: Tamás Sneider mit Márton Gyöngyösi bzw. László Toroczkai mit Dóra Dúró, einer Abgeordneten der Jobbik und Ehefrau von Előd Novák.
Das Ergebnis beim Parteitag ist knapp und das Parteiapparat (mit Gábor Vona und Gábor Szabó) unterstützt die Kandidatur Sneiders, der die Wahl letztendlich gewinnt; Toroczkai prangert den Ablauf des Parteitags an und betont, dass er weniger Redezeit gehabt habe. Trotz seiner Vergangenheit als Extremist setzt Sneider die Strategie Gábor Vonas fort, während Toroczkai kategorisch weiterhin jede Allianz mit der liberalen Linke ablehnt.
Diese Situation führt Toroczkai dazu, eine Plattform von Bürgermeistern innerhalb der Jobbik zu gründen, eine Initiative, die von der Parteiführung abgelehnt wird. Toroczkai entscheidet dann, aus der Jobbik auszutreten und gründet seine eigene Partei: Mi Hazánk Mozgalom (Bewegung Unsere Heimat). Vier Jobbik-Abgeordnete haben sich ihm seitdem angeschlossen. Er wird eine Liste bei den Europawahlen vom Mai 2019 anführen.
Was die Jobbik anbelangt, so hat sie infolge dieser Austritte freie Hand, um ihre Logik des Antiorbánismus bis zum Äußersten zu führen.
Für die kommenden Europawahlen hat die Jobbik erklärt, dass es u.a. darum gehe, Orbán daran zu hindern, Ungarn aus der EU herauszuführen. Ihre Liste wird von Márton Gyöngyösi angeführt.
Für die Europawahlen haben die Oppositionsparteien aufgrund des Verhältniswahlrechts keine Strategie mit einer gemeinsamen Liste gewünscht. Sie haben jedoch vor, es bei den Gemeindewahlen im Oktober 2019 zu tun.
Da es nun keinen Zweifel mehr über die Strategie der Jobbik gibt (im Vergleich zu 2018, wo diese noch nicht ganz klar war), wird das Ergebnis der Partei bei den Europawahlen ein erstes Zeichen über den Erfolg dieser Strategie der gemeinsamen Front mit der liberalen Linke ergeben, die einen radikalen Bruch mit den historischen Prinzipien der Partei darstellt.