Von Raoul Weiss.
Moldawien – Die Zufälle eines abenteuerlichen Lebens und wohl häufigere – nicht immer freundliche doch öfter redselige – Kontakte, als ich mir gewünscht hätte, mit dem „Personal“ des rumänischen Nationalismus haben mich, glaube ich, dazu gebracht, die Ideologie des rumänischen „tiefen Staats“ und seiner zahlreichen Vasallen bzw. der von ihm Betrogenen ziemlich gut zu kennen. Das Leitmotiv dieser Ideologie der Selbstrechtfertigung einer Gruppe, die objektiv eine Elite von Compradores im Dienste von im Falle Rumäniens besonders räuberischen Kolonialmächten bildet, ist, dass jedes Hinknien, jede Niedertracht verzeihbar sei, sofern es angeblich darum gehe, „dem obersten Interesse der Nation“ zu dienen, das vorrangig gebietsmäßig formuliert wird – was im Übrigen am Anfang des dritten Jahrtausends mitten in der Zeit vom Internet und der Migrantenflüsse völlig anachronistisch ist –, und zwar mit zwei maßgeblichen Zielen: das „bedrohte“ Siebenbürgen behalten und „Bessarabien“ (sprich Moldawien) „zurückerobern“.
Ich habe schon die Gelegenheit gehabt, mich darüber auszusprechen, wie realitätsfremd es sei zu glauben, dass die Zugehörigkeit Siebenbürgens zu Rumänien bedroht sei – einer Region, wo die Volksrumänen, auch ohne die rumänischsprachigen Zigeuner mitzuzählen, mindestens zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen, während die meisten Ungarischsprachigen in einer Gegend im Osten des Landes leben, die an das heutige Ungarn nicht angrenzt. Die Zeit scheint nun auch gekommen, den zweiten rechtfertigenden Mythos der Neo-Phanarioten des rumänischen tiefen Staats zu beleuchten. Dank der Neutralität, die meine persönliche Situation als französischer Beobachter in den Karpaten kennzeichnet, werde ich also eine analysierende Haltung einnehmen, die – u.a. für einen moldawischen Souveränisten – des Advocatus Diaboli, und zwar mit dem Standpunkt eines Rumänen, der aufrichtig gewünscht habe, dass die beiden Teile der historischen Moldau innerhalb eines einheitlichen rumänischen Staats „wiedervereint“ werden – ein Standpunkt, den man historisch unter dem Vokabel „Unionismus“ kennt bzw. in Moldawien „Rumänismus“ nennt.
In einer etwas längeren Studie am Anfang des Jahres hatte ich schon anmerken lassen, inwiefern Rumänien im Laufe der letzten zwanzig und insbesondere der letzten zehn Jahre auf der geopolitischen Bühne Moldawiens vollkommen abwesend gewesen ist, indem es, ohne mit der Wimper zu zucken, der Einbeziehung Moldawiens in die Ostpartnerschaft der EU, der Gewährung der Visumfreiheit, der Reorientierung in Richtung der europäischen Märkte (u.a. des rumänischen Markts!) eines Teils der Produktion Transnistriens nach der Schließung der ukrainischen Grenze wegen des Majdans, usw. usw. beiwohnte – sprich der methodischen Zerstörung durch den Westen von allem, was für die öffentliche Meinung in Moldawien objektiv für den Unionismus hätte sprechen können. Als einzige kleine Maßnahme, um diese Beresina zu kontern, gab es bloß unter Traian Băsescu die Verteilung von rumänischen Pässen in Moldawien, was hauptsächlich dazu führte, die Auswanderung der rumänischsprachigen Moldawier zu beschleunigen. Die rumänische nationalistische Propaganda kümmerte sich freilich nicht darum und ging aus Prinzip davon aus, dass die „moldawischen Brüder“ aus ganzem Herzen – und keinesfalls aus Interesse – die Wiedervereinigung wünschen würden. Bei den moldawischen Parlamentswahlen im vergangenen Februar, nach der Einführung der Visumfreiheit und der Verdauung des Großteils des moldawischen politischen Unionismus (um Andrei Năstase) in die von Maia Sandu geführte liberale Bewegung ACUM hat das Ergebnis der letzten offen unionistischen Parteien – bzw. von dem, was aus der liberalen Partei übrigbleibt – ganz genau die Stärke dieses „Elans des Herzens“ gezeigt, die wohl eher dem Zittern eines Sterbenden gleicht.
Auf jeden Fall kann man (für sie!) wünschen, dass die rumänischen Eliten das eigene Opium nicht konsumierten und vor dem Februar 2019 wussten, woran sie waren. Es ist übrigens das, was eine etwas ältere Äußerung eines der seltenen Tribunen besagten Nationalismus nahelegte, der manchmal seine Neuronen zu benutzen scheint: im Juni 2013 rief Dan Dungaciu, einer der Hauptpropagandisten des rumänischen tiefen Staats, Moldawien auf, „dem serbischen Beispiel“ zu folgen, indem es Transnistrien gegen dessen europäische Integration austausche. In anderen Worten hatte mindestens er verstanden, dass, wenn das Projekt Igor Dodons einer Föderalisierung zwischen Moldawien und Transnistrien – das angesichts der vom Oligarchen Plahotniuc vor dessen Fall publik gemachten Videos nun offenkundig ist – zu Ende geführt werde, diese interne Wiedervereinigung die Totenglocke für jedes Projekt einer äußeren „Wiedervereinigung“ mit Rumänien, sprich für den Unionismus läuten würde, und zwar aus einem systematisch durch den offiziellen Diskurs Rumäniens unter dem Teppich gekehrten Grund, dessen jedoch Dan Dungaciu und seinesgleichen absolut bewusst sind: die – bei der (u.a. aber nicht nur slawischsprachigen) Bevölkerung Transnistriens durchaus vorhandene Erinnerung an die Übergriffe des einstigen Regimes von Marschall Antonescu während des II. Weltkriegs mit der damaligen militärischen Besatzung und ethnischen Säuberung Moldawiens, Transnistriens und eines Teils Neurusslands.
Mangels eines aufrichtigen Mea Culpa diesbezüglich hatte das „demokratische“ Rumänien nach 1989 sowieso de facto auf jede Perspektive einer friedlichen Reannexion der slawischsprachigen Teile Moldawiens – und wahrscheinlich des gesamten Moldawiens mit Ausnahme vielleicht einer mittleren bis südlichen Region verzichtet, die vielleicht 40% des Gebiets ausmacht, denn, nicht nur in Transnistrien, sondern auch in Gagausien, im Norden des Landes, bzw. im Zentrum und östlich von der Hauptstadt hätte man ansonsten mit dem entschlossenen (notfalls bewaffneten) Widerstand eines Großteils der Bevölkerung rechnen müssen. Um auf die rumänischen Nationalisten zurückzukommen, ist es nicht schwierig, den psychologischen Background einer solchen intellektuellen Trägheit zu erraten: in einem geistigen Archaismus, der wahrscheinlich von ihren Herren gefördert wird – die gelegentlich Kampfhunde benötigen können, um sie jedoch im Nachhinein aufzuopfern –, haben die Bukarester Söldner des Westens – ohne es zu sagen – in Wirklichkeit aus ihrem strategischen Repertoire niemals das ausgeschlossen, was man in der Ukraine die „kroatische Lösung“ nennt, sprich die Ausrottung bzw. Vertreibung der moldawischen (u.a. slawischsprachigen) Bürger, die dem Unionismus nicht zustimmen.
Nur ist es eben so: auf der geopolitischen Bühne von 2019 scheint niemand die übelriechenden Schäferhunde des rumänischen tiefen Staats zu brauchen. Russland, das gerade versucht, Moldawien zu finnlandisieren, um es abschließend zu föderalisieren und Transnistrien (u.a. finanziell) nicht mehr unter großem Krafteinsatz am Leben erhalten zu müssen, braucht sie nicht einmal mehr als Popanzen. Das Brüsseler IV. Reich spielt seit langem die Karte der „getrennten Pseudo-Integration“: sich die Ressourcen und die Märkte unter den Nagel reißen (was schon großteils getan wurde, indem man allerdings der Türkei ein kleines Stück überlässt), doch ohne aus Moldawien ein Mitgliedstaat zu machen, um keine Subventionen berappen zu müssen – ein Grund unter hundert anderen, um dessen Integration in einem nach Strich und Faden korrupten Rumänien – selbst ein Mitgliedstaat – keineswegs tolerieren zu wollen. Die letzte Hoffnung Plahotniucs und der rumänischen Nationalisten waren die USA, die ihnen zuletzt schließlich im August 2016 einen Dolchstoß in den Rücken versetzten, indem ihr damaliger Botschafter in Kischinau erklärte – was sein Nachfolger James Pettit übrigens seitdem niemals dementierte:
„Moldawien soll ein souveräner und unabhängiger Staat mit sicheren Grenzen bleiben. Sich Rumänien anschließen z.B. als Beitrittsweg in die EU oder aus ganz anderem Grund ist weder eine praktische Wahl noch eine Wahl, die die Lage hier in Moldawien verbessern würde.“
Man kann sich selbstverständlich lange Fragen über die Gründe dieser Entscheidung stellen. Mag die Lektion vom Donbass ihre Früchte getragen haben? Oder ist es ganz einfach, dass der Oligarch Plahotniuc, der mit der „Milliardenaffäre“ weiterhin Dreck am Stecken hat, etwas vorschnell auf Trump gesetzt hat – der nicht unbedingt weiß, wo Moldawien überhaupt liegt – bzw. als Trittbrettfahrer auf den Zug des euroskeptischen Illiberalismus gesprungen ist, ohne zu bemerken, dass der State Department auf durchaus konservativeren (aus der Obama-Ära geerbten) eher pro-EU-Positionen verbleibt? Die Frage bleibt offen, aber das Ergebnis ist nunmehr klar.
Indem sie den Pragmatismus weiter führte, als man es sagen könnte, haben die moldawischen Politiker die unionistische Popanz sofort (spätestens ab 2017) über Bord geworfen. Geopolitisch betrachtet hat die souveränistische und „seiltänzerische“ Option Igor Dodons – der trotz seiner gutmütiger Erscheinung unbestritten der klügste moldawische Politiker seiner Generation ist – praktisch schon vor den Parlamentswahlen von 2019 triumphiert, die aus seiner Partei – der Partei der Sozialisten der Republik Moldau (Partidul Socialiștilor din Republica Moldova / Партия социалистов Республики Молдова, PSRM), die übrigens bloß vom Namen her sozialistisch ist und in ihrem Programm praktisch eher dem ungarischen Fidesz gleicht – zur ersten Partei Moldawiens machten. Während die europäischen Rechten Opfer ihres alten antikommunistischen Tropismus bleiben und sich derzeit auf die Ernennung der „Soros-Jüngerin“ Maia Sandu zur Ministerpräsidentin fokussieren, sollte der laufende Ausgang nämlich heißen: „Igor Dodons Triumph“.
Denn in der Tat hat man gerade dem Ausgang eines malerischen Kräftemessens zwischen der unwahrscheinlichen neulich in Anwesenheit der russischen, europäischen und amerikanischen (!) Botschafter durch Igor Dodon und Maia Sandu in einem Parlament gebildeten Mehrheit (wo der Strom auf Befehl Plahotniucs gesperrt worden ist) und dem Oligarchen Plahotniuc beigewohnt, der angeblich den gesamten Staatsapparat kontrollieren würde – inklusive den Verfassungsgerichtshof, der eine x-malige Suspendierung Igor Dodons eben ausgesprochen hat, bzw. auch die Armee… Die Krise führte zum Rücktritt Plahotniucs und seines Leutnants Filip (der seit der Suspendierung Dodons das Präsidentenamt interimistisch wahrnahm). In einer gewissen Weise ist es der Hausverstand, der in diesem demographisch und finanziell ausgebluteten Land die Oberhand gewonnen hat: kein Politiker in dieser Region kann sehr lange mit der Feindschaft Russlands, der EU und der USA überleben.
Doch nun kommen wir zum pikanten Detail: vor seiner „Abdankung“ soll Vlad Plahotniuc mit einigen Beratern des „rumänischen“ Präsidenten Klaus Johannis gesprochen haben. Haben sie ihm Garantien angeboten, um dessen Ruhestand abzusichern? Wenn so der Fall sei und Herr Plahotniuc diese angenommenen habe, kann man die Hypothese wagen, dass er sich besser daran hätte erinnern sollen, was 1944 den in Bukarest anwesenden deutschen Offizieren geschehen ist bzw., um ein jüngeres Beispiel zu nennen, an das wenig beneidenswerte Schicksal Liviu Dragneas, der seit dem Folgetag der Europawahlenhinter schwedischen Gardinen sitzt und der – so uns seitdem die rumänische Presse mit einer etwas verdächtigen Penetranz wiederholt – seit seiner Einkerkerung an einer „schlimmen Depression“ leidet. Es bleibt nunmehr bezüglich Dragnea und Plahotniuc zu hoffen, dass sie keinen Selbstmordversuch unternehmen werden. Was den famosen „Nationalismus“ des rumänischen „Staats“ betrifft, so machen wir uns darüber kaum Sorgen: da seine Existenz niemals eine andere als eine nebensächliche bzw. eine illusorische war, so ist er per Definition nicht in Gefahr.
Die internationalen Beobachter werden daran gewinnen, die Schlussfolgerungen dieses klassischen nationalen Harakiri das nächste Mal abzuwägen, wenn man von „rumänischer Empörung“ bzw. von „bedrohten“ rumänischen „nationalen Interessen“ in Siebenbürgen hören wird.