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Ungarn: Einheitsfront der Opposition gegen Orbán im Wahljahr 2022

Lesezeit: 7 Minuten

Es war keine Überraschung, aber jetzt ist es offiziell. Mitte August 2020 einigten sich die Vorsitzenden von sechs Oppositionsparteien in Ungarn darauf, anlässlich der nächsten Wahlen im Jahr 2022 in den 106 Parlamentswahlkreisen gemeinsame Kandidaten aufzustellen. Das bei den Kommunalwahlen im Oktober 2019 (aber auch bei einer Nachwahl zum Parlament in Dunaújváros im Februar 2020) schon einmal errichtete Bündnis wird somit erneuert.

Unmittelbare Folge: Bei der nächsten Nachwahl zur Parlamentswahl im Oktober wird ein Kandidat der Jobbik (László Bíró [1]) als gemeinsamer Kandidat der Opposition gegen die Fidesz-Kandidatin Zsófia Koncz, die Tochter eines bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommenen Abgeordneten, antreten.

Wahlwerbung László Bírós (Quelle: Facebook / László Bíró).

Die sechs im ungarischen Parlament vertretenen Parteien, die Verbündete sein werden, sind:

  • DK (Demokratikus Koalíció), die Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten (2004–2009) Ferenc Gyurcsány;
  • Momentum, die junge liberale, europäische und atlantische Partei, in Brüssel vor allem verbündet mit der Partei von Emmanuel Macron;
  • MSZP, die untergehende Ungarische Sozialistische Partei;
  • LMP, die ebenfalls schwächelnde Umweltschützerpartei;
  • Párbeszéd Magyarországért (Dialogpartei für Ungarn), die kleine Mitte-Links-Umweltschutzpartei, aus der der Bürgermeister von Budapest, Gergely Karácsony, stammt;
  • Jobbik, die ehemals radikal-nationalistische Partei, die eine dramatische Kursänderung vorgenommen und sich den anderen Oppositionsparteien angenähert hat; sie hat nun mit Péter Jakab einen neuen jüdischen Parteivorsitzenden, der sich ausschließlich der Aufgabe widmet, die Opposition zusammenzubringen, um Orbán zu stürzen.

Zu diesen sechs Parteien mit parlamentarischer Vertretung könnten  grundsätzlich die MKKP (Partei des zweischwänzigen Hundes, eine satirische Gruppierung) und die von Péter Márki-Zay gegründete kleine Partei MMM hinzurechnet werden.

Die einzigen beiden sonstigen Oppositionsparteien, die mit Sicherheit nicht Teil dieser Koalition sein werden, sind die nationalistische Partei Mi Hazánk (die sich nach den Parlamentswahlen 2018 von Jobbik abgespalten hat) und die inzwischen marginale Kommunistische Partei Munkáspárt.

Zur Erinnerung: Das Wahlsystem für die Wahl der 199 Abgeordneten in die ungarische Nationalversammlung ist ein gemischtes:

  • 106 Abgeordnete werden in einem uninominalen Wahlkreissystem mit nur einem Wahlgang gewählt (wie im Vereinigten Königreich);
  • 93 Abgeordnete werden nach dem Verhältniswahlrecht aus Listen gewählt, wobei eine 5%-Schwelle überschritten werden muss, um gewählt zu werden.

Bei den Parlamentswahlen 2014 und 2018 war Fidesz (mit seinem Verbündeten, der KDNP) durch die Wahl in einem Wahlgang für den für den uninominalen Teil der Wahl klar im Vorteil, da sie einen Block darstellt, der je nach Wahlkreis zwischen 45 und 50% der Stimmen stellen konnte, wobei das Parteibündnis Fidesz-KDNP jeweils verstreuten Gegnern gegenüberstand.

Ergebnis der Parlamentswahlen 2018 in den jeweiligen Wahlkreisen (Quelle: Wikipedia / Furfur)

Der Bürgermeister von Hódmezővásárhely, Péter Márki-Zay, begrüßte die Ankündigung und prophezeite, dass die Opposition mit der neuen Bündnisstrategie sogar eine Zweidrittel-Verfassungsmehrheit erzielen und damit das seit 2010 bestehende Orbán’sche Erbe vollständig zertrümmern könnte.

Zur Erinnerung: Péter Márki-Zay war der erste, der während einer kommunalen Nachwahl im Februar 2018 von der Bündnisstrategie der Opposition profitierte, und einer der allerersten, der seinen Wunsch nach einem Bündnis und einer gemeinsamen Führung aller Oppositionsparteien gegen Fidesz klar zum Ausdruck brachte.

Auch das Prinzip von Vorwahlen in jedem Wahlkreis und für die Nominierung eines gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Premierministers wurde erörtert. Über eine grundsätzliche Einigung hinaus bleiben jedoch noch einige Modalitäten abzuwarten:

  • Wird es eine gemeinsame Oppositionsliste für den Teil des Wahlgangs nach Verhältniswahlrecht geben? Dies ist u.a. der Wunsch von Ferenc Gyurcsány. Andere wie Jobbik oder Péter Márki-Zay sind dagegen zurückhaltender und argumentieren insbesondere damit, dass dies keine ideale Konfiguration sei, um die Stimmen der Opposition zu maximieren.
  • Welchen Platz haben die derzeitigen unabhängigen Abgeordneten, vor allem diejenigen, die die LMP (Bernadett Szél, Ákos Hadházy) oder die Jobbik (Tibor Bana, János Bencsik, Gergely Farkas, Tamás Sneider, Andrea Varga-Damm) verlassen haben und immer noch auf der Linie „alle vereint gegen Orbán“ stehen? Angesichts der schmerzhaften Austritte innerhalb der Jobbik-Fraktion äußerte sich deren Obmann Péter Jakab kritisch, dass diejenigen, die die Fraktion verlassen, nicht imstande sein werden, 2022 innerhalb der vereinigten Opposition eine Nominierung zu erlangen (nicht einmal in einem Wahlkreis).

Die heiklen Fälle des Wahlprogramms von Jobbik und Ferenc Gyurcsány

Wird es diesem neuen Bündnis, über das bereits 2018 diskutiert wurde, das aber seinerzeit nicht zum Tragen kommen konnte, gelingen, Orbán 2022 zu stürzen? Die neue Koalition, die bereits während der Kommunalwahlen vom Oktober 2019 umgesetzt wurde, hat Früchte getragen, indem mehrere Bürgermeister (darunter der von Budapest) gestürzt wurden, ohne jedoch den Zusammenbruch von Fidesz zu verursachen. Wir können also ein knappes Spiel erwarten.

Dennoch bleiben viele Fragen offen.

Welches Wahlprogramm hat diese ungleiche Koalition? Gegenwärtig ist das einzige identifizierbare Element der Wunsch, Orbán zu stürzen, wofür der Slogan O1G ausgegeben wurde. Ein weiteres Konsenselement ist die gemeinsame geopolitische Orientierung: atlantizistisch, pro-EU, anti-russisch und anti-chinesisch.

Im übrigen ist es schwierig zu erkennen, was die Koalitionspartner vereinen kann, sei es in wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Fragen. Oberflächlich betrachtet erklären sich Jobbik oder Péter Márki-Zay immer als Mitte-Rechts, konservativ und christlich. Wie lässt sich das Erscheinungsbild dieser Positionierung mit dem sehr aktiven pro-LGBT-Engagement der übrigen linken liberalen Opposition in Einklang bringen?

Und wie geht man mit der radikalen Vergangenheit der Jobbik um, die oft als rassistisch oder antisemitisch angesehen wurde? Speziell bei der Kandidatur von László Bíró für die Nachwahl zum Parlament im Oktober 2020 kam es zum Diskurs über einige antisemitische Äußerungen des Kandidaten, da dieser Budapest früher als „Judapest“ bezeichnet hatte (unter Bezug auf die Präsenz einer großen jüdischen Gemeinde in der ungarischen Hauptstadt).

László Bíró entschuldigte sich für diese Äußerungen und die anderen Oppositionsparteien, die seine Kandidatur unterstützen, nahmen die Entschuldigung an. Nichtsdestotrotz bleibt die Vergangenheit einiger Kader von Jobbik eine stete Quelle der Verlegenheit für die Koalitionen der liberalen Linken und einen (wenn auch nur eine Minderheit darstellenden) Teil der Anti-Orbán-Wählerschaft.

Welche Rolle spielt Ferenc Gyurcsány? Seine äußerst spalterische Persönlichkeit wird von einem großen Teil der Ungarn (sowohl Pro-Orbán als auch Anti-Orbán) stark abgelehnt und nur vom harten Kern seiner Wählerschaft bewundert (zur Erinnerung: Bei den Europawahlen im Mai 2019 erhielt die DK 16% der Stimmen und war damit die erste Oppositionspartei; es war Klára Dobrev, die Ehefrau von Ferenc Gyurcsány, die die DK-Liste anführte).

Um die Feindseligkeiten gegenüber Ferenc Gyurcsány zu verstehen, muss man etwa 15 Jahre zurückgehen. Gleich nach seiner Wiederwahl zum Ministerpräsidenten erklärte Gyurcsány 2006 den Parlamentariern der MSZP hinter verschlossenen Türen die Realität der Situation in harten Worten: Entgegen aller Behauptungen der siegreichen MSZP-Kampagne war die Lage der öffentlichen Finanzen sehr schlecht und würde eine sehr schmerzhafte Sparpolitik erfordern, also das genaue Gegenteil der Wahlkampfversprechen. „Wir haben morgens, mittags und abends gelogen“, sagte Gyurcsány damals.

Das Durchsickern einer Tonbandaufnahme hatte daraufhin zu großen Ausschreitungen geführt; es kam zum Zusammenbruch des Wahlkampfs der MSZP (und ihres liberalen Verbündeten SZDSZ, der inzwischen aus der politischen Landschaft verschwunden ist), zu einem beträchtlichen Aufstieg der Fidesz und zu einem spektakulären Durchbruch der Jobbik in der extremen Rechten des politischen Spektrums.

Ohne diese Ereignisse und ohne die „ehrliche“ Äußerung von Gyurcsány hätte Fidesz 2010 niemals eine Zweidrittel-Verfassungsmehrheit erhalten. Viele Oppositionelle haben noch immer die Rolle, die Gyurcsány bei der ungeteilten Vorherrschaft von Fidesz im politischen Leben Ungarns während des letzten Jahrzehnts spielte, vor Augen.

Daher wollen viele auch der Anti-Orbán-Wähler Gyurcsány nicht wieder an die Macht kommen lassen. Gleichzeitig wollen die Anhänger Gyurcsánys in ihrer Unterstützung für ihren Führer nicht zurückstecken. Ein ähnliches Problem stellt sich im Fall von Jobbik: Trotz der Abneigung (um nicht zu sagen des Ekels) der Führer der linksliberalen Parteien gegenüber der ehemaligen extremistischen Partei haben sie zur Kennntis nehmen müssen, dass es ohne Jobbik nicht möglich ist, das Kräfteverhältnis bei den Wahlen gegenüber Fidesz zu ihren Gunsten zu verschieben. Es gilt somit dasselbe wie bei Gyurcsány.

Im August 2020 kam es zu Spannungen zwischen DK und Momentum, insbesondere in der lokalen Verwaltung der Gemeinde Göd, wo sich Bürgermeister (Momentum-Mitglied) Csaba Balogh im Konflikt mit den DK-Mitgliedern befand. Um die Situation zu beruhigen, fand ein Treffen zwischen András Fekete-Győr (dem Vorsitzenden von Momentum) und Gyurcsány statt. Kurz darauf versuchte András Fekete-Győr auch die Gegner von Gyurcsány zu beruhigen, indem er erklärte, dass Gyurcsány in einer künftigen Koalitionsregierung der derzeitigen Opposition kein Ministeramt bekleiden würde.

Einige Tage später legte DK-Vizevorsitzende (und Abgeordnete) Ágnes Vadai nochmals nach und erklärte auf Facebook: „Wer gegen Gyurcsány ist, ist gegen die DK, gegen die Zusammenarbeit der Opposition und deshalb auf der Seite von Fidesz […] Ich versichere allen: Gyurcsány wird bleiben. Und er wird eine führende Rolle bei der Schaffung eines neuen Ungarn spielen. Er wird Mittel und Wege dafür finden. Ich weiß, dass er es tun wird. Weil ich ihn kenne.“

Der ehemalige LMP-Abgeordnete (und Präsident) András Schiffer kommentiert auf seiner Facebook-Seite die Aussage von Ágnes Vadai wie folgt: „Ich hatte Unrecht, als ich diese Leute als post-bolschewistisch bezeichnete. Zumindest was das Präfix Post- betrifft“.

Angesichts der wachsenden Kontroverse, die von den Pro-Fidesz-Medien weidlich ausgenutzt wurde, erklärte Ferenc Gyurcsány am 18. August, dass er keine anderen Ambitionen habe, als der künftigen Regierung zu dienen, und dass er kein Amt anstrebe, sei es ein Ministeramt oder gar das eines Präsidenten der Nationalversammlung.

Welche Rolle kann sich Ferenc Gyurcsány also für sich selbst vorstellen? Aufgrund seiner Regierungserfahrung, seines Charismas, seines Könnens (trotz seines monumentalen Absturzes im Jahr 2006) und sogar seines persönlichen Vermögens (das ihn vor Not und Versuchung schützt) ist er bei weitem die fähigste Figur der Opposition. Er übertrifft bei weitem die gebrechlichen, mediengesteuerten Jungpolitiker von Momentum oder die lahmen Enten und andere Naivlinge der untergehenden Oppositionsparteien (MSZP, Jobbik, LMP). Nur Gergely Karácsony, der derzeitige Bürgermeister von Budapest, könnte man mit François Hollande in der französischen Politik vergleichen (ein sehr kluges Taktitker, und scheinbar weniger gefährlich als er tatsächlich ist), der über die notwendige Wahrnehmbarkeit und das Ansehen verfügt, um mit Ferenc Gyurcsány zu konkurrieren.

Man kann sich also vorstellen, dass Gyurcsány im Falle eines Sieges der Opposition eine Rolle ähnlich der von Jarosław Kaczyński in Polen übernehmen wird. Kaczyński, der Vorsitzende der polnischen Regierungspartei, weiß, dass er ein Raubein ist, und ist daher offiziell nur ein einfacher Parlamentarier; in Wirklichkeit ist er jedoch der Mann, der in Polen die Fäden der Macht zieht. In geringerem Maße hatte Robert Fico in der Slowakei, nachdem er als Ministerpräsident nach verschiedenen Skandalen zurücktreten musste, versucht, eine ähnliche Rolle zu spielen.

Dennoch ist mit der Ankündigung des Bündnisses der Oppositionsparteien und der Medienaffäre um „Index“ die Kampagne für die ungarischen Parlamentswahlen im Frühjahr 2022 bereits in vollem Gange. In einer Welt, die von den wirtschaftlichen Folgen von Covid erschüttert wird, lässt sie den Ausgang völlig offen und verspricht tendenziell brutaler zu werden denn je.


[1] Nach einer Beschwerde von Fidesz weigerte sich die Wahlkommission, László Bíró offiziell von Jobbik nominieren zu lassen. Das Argument war, dass Péter Jakab noch nicht rechtmäßig bestellter Vorsitzender der Jobbik sei, was ihn daran hindern würde, diesen Kandidaten im Namen der Partei zu nominieren. Verwaltungstechnisch hat László Bíró daher nur die Nominierung durch die anderen Oppositionsparteien erhalten und wird nur die Logos dieser Parteien auf seinen Stimmzettel setzen können.