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Verfügt die Regierung Morawiecki noch über eine Mehrheit im Sejm?

Lesezeit: 4 Minuten

Polen – Die Frage, ob die Regierung von Mateusz Morawiecki noch über eine Mehrheit im Sejm verfügt, wird wahrscheinlich in einer Abstimmung über die Entlassung der „Marschallin“ (Präsidentin) des polnischen Unterhauses beantwortet werden. Die Oppositionsgruppen möchten Elżbieta Witek von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) aus dem Amt entfernen, nachdem sie am 11. August beschlossen hatte, eine Abstimmung zu wiederholen, die die PiS-Fraktion gerade verloren hatte. Die fragliche Abstimmung betraf die Aussetzung der Arbeit des Sejm bis zum 2. September, und die Opposition ist der Ansicht, dass die erneute Abstimmung der Abgeordneten über die dreiwöchige Unterbrechung der Beratungen einen Verstoß gegen die parlamentarische Ordnung darstellt.

Sie haben unrechtmäßig einen Antrag zur Abstimmung gestellt, über den erst am 2. September abgestimmt werden durfte“, sagte der Vorsitzende der Fraktion der Bürgerkoalition (KO), Borys Budka. Die KO ist die von Donald Tusks Bürgerplattform (PO) geführte Fraktion. Die Wiederholung der Abstimmung war unter anderem von Abgeordneten der Partei Kukiz’15 beantragt worden, einer souveränistischen „Anti-System“-Partei, die sich vor einiger Zeit von der aus der Agrarpartei PSL hervorgegangenen Koalicja Polska abgespalten hatte und sich seitdem der PiS angenähert hat. Die Kukiz’15-Abgeordneten behaupteten, sie seien durch den Wortlaut der ersten Entschließung irregeführt worden und hätten bei der Abstimmung einen Fehler gemacht. Ohne deren Umkehrung hätte die PiS-Fraktion, der Abgeordnete der PiS und der mit ihr verbündeten kleineren Parteien angehören, die Aussetzung der Beratungen des Sejm bis September nicht verhindern können.

Der polnische Sejm besteht aus insgesamt 460 Angeordneten. Daher sind mindestens 231 Stimmen erforderlich, um eine absolute Mehrheit zu erreichen. Die PiS-Fraktion umfasst 194 Abgeordnete der PiS, 19 Abgeordnete der Partei Solidarna Polska von Justizminister Zbigniew Ziobro, 8 Abgeordnete der Partia Republikańska und 6 Abgeordnete, die keiner Partei angehören, insgesamt also 227 Abgeordnete. Von außen wird er von 3 Abgeordneten der Kukiz’15 (von 4) und 2 unabhängigen Abgeordneten unterstützt. Ohne diese externe Unterstützung würde sie nicht mehr über eine Mehrheit bei den Abstimmungen verfügen. Diese Unterstützung ist jedoch nicht bedingungslos, insbesondere seitens der Kukiz’15, die bestimmte Reformen als Gegenleistung für diese Unterstützung fordert, die ihrem Anführer – dem „systemfeindlichen“ Sänger Paweł Kukiz – sehr am Herzen liegen, der 2015 mit seinem dritten Platz bei den Präsidentschaftswahlen für eine Überraschung gesorgt hatte.

Innerhalb der PiS-Fraktion ist die von Adam Bielan geführte Partia Republikańska das Ergebnis einer internen Abspaltung der Partei Porozumienie (Verständigung) des ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten und Ministers für Entwicklung, Arbeit und Technologie Jarosław Gowin. Die parteilosen Abgeordneten der PiS-Fraktion gehören ebenfalls der Partei Porozumienie an, die in die Opposition gegangen ist, nachdem Ministerpräsident Mateusz Morawiecki Gowin am 11. August entlassen hatte. Gowin nahm fünf weitere Abgeordnete mit und sucht nun eine Annäherung an die PSL-Fraktion. Der Austritt erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die parlamentarische Mehrheit durch den Austritt einiger PiS-Abgeordneter (von denen einige später zurückkehrten) bereits geschwächt war.

Konflikte innerhalb der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica), der Koalition, die die PiS-Fraktion im Sejm bildet, gibt es immer wieder, aber Jarosław Kaczyński hat sich vorsorglich mit den Abgeordneten der Kukiz verbündet, und auch die Rolle, die ihm bei der von Adam Bielan verursachten parteiinternen Spaltung von Gowin zugeschrieben wird, der sich Berichten zufolge kurz vor dem Streit zwischen ihm und Jarosław Gowin mit dem PiS-Vorsitzenden getroffen hat, deutet darauf hin, dass Gowins Blockade der Präsidentschaftswahlen druch Briefwahl im Mai 2020 schlecht verdaut wurde. Doch wie viele Kommentatoren – auch solche, die eher der PiS nahestehen – betonen, hatte Gowin die Präsidentschaftswahlen damals vor einer schweren Legitimitätskrise bewahrt.

Offiziell bedankte sich der Ministerpräsident jedoch bei seinem Minister für Entwicklung, Arbeit und Technologie für seinen lautstarken Widerstand gegen die Steuererhöhungen, die im Rahmen der „Polnische Ordnung“ genannten Wirtschaftsstrategie der PiS nach der Pandemie  für Kleinunternehmer geplant sind. Gowin präsentiert sich als liberal-konservativ, sprich als Anhänger des Wirtschaftsliberalismus und der konservativen Gesellschaftspolitik. Innerhalb der Regierung Morawiecki war er jedoch kürzlich zum wärmsten Befürworter der Segregation von nicht gegen Covid 19 geimpften Personen nach französischem Vorbild geworden.

Nach seinem Ausscheiden aus der Koalition der Vereinigten Rechten erklärte Jarosław Gowin, dass er für die Absetzung von Elżbieta Witek als Sejmmarschallin stimmen werde. Um Witek abzusetzen, muss die Opposition jedoch eine Mehrheit für einen anderen Kandidaten aufbringen, was keine leichte Aufgabe ist. Während die Bürgerkoalition wahrscheinlich eine Einigung mit Gowin und der Linken (Lewica) und der Koalicja Polska sowie mit der zentristischen Partei Polska 2050 von Szymon Hołownia erzielen könnte, wird es schwierig sein, eine Einigung mit der Konfederacja zu erzielen, die von den Nationalisten und Libertären gebildet wird. Letztere haben mit ihren 11 Abgeordneten bereits ihre Bedingungen gestellt: Die anderen Oppositionsfraktionen müssen sich im Gegenzug schriftlich verpflichten, ihren Gesetzesvorschlag „Halt der sanitären Segregation“ zu unterstützen und das Wirtschaftsprogramm „Polnische Ordnung“ zu blockieren. Wenn es jedoch um sanitäre Einschränkungen geht, sind die Fraktionen der Mitte und der Linken allerdings der Meinung, dass die Regierung Morawiecki nicht genug tue.

Für den Vorsitzenden der PiS-Fraktion im Sejm, Ryszard Terlecki, würde die Ersetzung von Elżbieta Witek durch einen Abgeordneten der Opposition unweigerlich zu vorgezogenen Neuwahlen im nächsten Frühjahr führen. Dieses Szenario ist eher unwahrscheinlich, aber es könnte eintreten, falls die PiS – selbst mit Witek als Sejmmarschallin – nicht mehr in der Lage wäre, ihre wichtigsten Gesetze zu verabschieden. Seit etwa zehn Monaten genießt Kaczyńskis Partei – obschon sie stärkste Partei bleibt – in den Umfragen allerdings nicht mehr die Unterstützung, die es ihr ermöglichen würde, wie 2015 und 2019 eine absolute Mehrheit zu erreichen.

Monatlicher Durchschnitt der Umfragen

Quelle: https://ewybory.eu/sondaze/