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Kompetenzstreit zwischen Brüsseler Westen und EU-Osten spitzt sich zu (erster Teil)

Lesezeit: 5 Minuten

Warschau fordert die Einhaltung der Verträge und weigert sich, die vom EUGH verhängten Zwangsgelder zu zahlen.

 

Olivier Bault bietet uns eine Trilogie, die sich mit den aktuellen Konflikten zwischen der Europäischen Kommission, dem EUGH und den Mitgliedstaaten befasst, die sich der Regierung der europäischen Richter widersetzen. Warschau, Bukarest und Budapest stehen in dieser Frage besonders im Visier der Brüsseler Instanzen, während die Entscheidungen der französischen und deutschen Verfassungsrichter denen der polnischen, rumänischen und ungarischen Gerichte ähneln. Der erste Teil dieser Trilogie widmet sich den immer tiefer werdenden Differenzen zwischen Polen und dem EUGH.

 

Die Grenzen der Rechtsprechung des EUGH und der Zuständigkeiten der EU-Institutionen werden heute mit den aktuellen Konflikten gezogen, in die insbesondere drei Länder und ihre Verfassungsgerichte verwickelt sind: Polen, Ungarn und Rumänien. Es handelt sich dabei um Länder, die Nettoempfänger von EU-Geldern sind, und in Brüssel denkt man wohl, dass es leichter sein wird, sie in die Knie zu zwingen, als das deutsche Verfassungsgericht zurückzudrängen. Da Deutschland nun eine Regierung mit einem offen euroföderalistischen Koalitionsprogramm hat, wird sich Berlin wahrscheinlich darum kümmern, das eigene Verfassungsgericht in Ordnung zu bringen, das sich in einem Urteil vom Mai 2020 weigerte, die Gültigkeit für Deutschland einer Entscheidung des EUGH anzuerkennen, mit der das Programm der EZB zum Ankauf von Staatsanleihen für gültig erklärt wurde.

Die Karlsruher Richter waren der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ bleiben und dass es Aufgabe der nationalen Verfassungsgerichte sei, die Luxemburger Richter zu kontrollieren, wenn diese sich zu viele Freiheiten mit den Verträgen nehmen.

Das Urteil des EUGH vom 11. Dezember 2018 zu den Staatsanleihenkäufen der EZB wurde daher von den deutschen Verfassungsrichtern als ultra vires (jenseits der Befugnisse der europäischen Gerichtsbarkeit) und damit als in Deutschland nicht anwendbar erklärt. Am 9. Juni 2021 leitete die Europäische Kommission wegen dieses Urteils ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein, jedoch ohne donnernde Erklärungen über die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit und der europäischen Werte sowie über die Infragestellung des Vorrangs des europäischen Rechts, die das gesamte Gebäude der europäischen Integration ins Wanken bringen könnte. Und vor allem ohne dieses Verfahren mit einer Erpressung mit EU-Mitteln wie im Fall Polens zu begleiten. Und das aus gutem Grund! Deutschland ist der größte Nettozahler in den EU-Haushalt. Im Gegensatz zu Polen, das bis heute der größte Nettoempfänger ist, jedenfalls wenn man nur den Haushalt selbst berücksichtigt und nicht die gesamten Finanzströme oder den Markt für CO2-Emissionsrechte.

Daher war das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober, das auch die Entscheidungen des EUGH für ultra vires und unvereinbar mit der nationalen Verfassung erklärte, die den polnischen Richtern das Recht einräumten, die Legitimität und damit die Entscheidungen der Richter, die nach den 2018 in Kraft getretenen Justizreformen ernannt wurden, nicht anzuerkennen, für die Europäische Kommission eine Gelegenheit, unausgesprochen die Anwendung des Konditionalitätsmechanismus, auch Rechtsstaatsmechanismus genannt, in Bezug auf die Zuweisung von Mitteln aus dem Aufbaufonds Next Generation EU einzuführen. Damit verstößt die Kommission nicht nur gegen die Regeln für die Vergabe dieser Mittel, sondern auch gegen die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Dezember 2020, in denen der Rahmen für die Anwendung des Konditionalitätsmechanismus festgelegt wurde. In den Augen der Osteuropäer bestätigt dies, dass

dieser neue Mechanismus zu einem Erpressungsinstrument werden soll, mit dem Brüssel seine Ansichten auch in Bereichen durchsetzen kann, die gemäß den Verträgen theoretisch in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen.

Neben der Weigerung der Kommission, das von Warschau vorgelegte Konjunkturprogramm zu genehmigen – eine Vorbedingung für das grüne Licht des Rates für dieses Programm –, die der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts vorausging, doch, wie die Kommission selbst zugab, bereits ein Druckmittel auf die Richter dieses Verfassungsgerichts war, nachdem die Regierung Morawiecki sich geweigert hatte, die Befassung des Verfassungsgerichts aufzuheben, standen die empörten Reaktionen auf das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober letzten Jahres im Gegensatz zu den besorgten, aber gemäßigten Reaktionen auf das Urteil des deutschen Bundesgerichtshofs vom 5. Mai 2020. In beiden Fällen haben die nationalen Verfassungsgerichte jedoch lediglich den Vorrang der Verfassung in der nationalen Rechtsordnung und die Tatsache bekräftigt, dass der Europäische Gerichtshof keine Entscheidungen treffen darf, die eine Übertragung von Souveränität beinhalten, die nicht in den ordnungsgemäß unterzeichneten und im demokratischen Verfahren ratifizierten Verträgen verankert ist, oder die auf andere Weise gegen diese Verträge verstoßen würden. Ohne bis zur Konfrontation mit dem EUGH zu gehen, da es in diesem Fall keinen Kompetenzkonflikt gab, sagte der französische Verfassungsrat nichts anderes, als er in seiner Entscheidung vom 15. Oktober 2021 in Bezug auf das europäische Recht bemerkte: „Die Umsetzung einer Richtlinie oder die Anpassung des innerstaatlichen Rechts an eine Verordnung darf nicht gegen eine Regel oder einen Grundsatz verstoßen, die bzw. der der Verfassungsidentität Frankreichs innewohnt, es sei denn, der Verfassungsgeber hat dem zugestimmt.

Im Falle Polens leitete die Europäische Kommission am 22. Dezember dennoch ein Vertragsverletzungsverfahren „wegen Verstößen gegen EU-Recht durch [den] polnischen Verfassungsgerichtshof“ ein. Es sei auch daran erinnert, dass der EUGH im Zusammenhang mit einem ähnlichen Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom Juli, in dem dem EUGH das Recht verweigert wurde, die Suspendierung der Disziplinarkammer des polnischen Obersten Gerichtshofs (Kassationsgerichts) per einstweiliger Verfügung anzuordnen, auf Antrag der Kommission ein tägliches Zwangsgeld in Höhe von einer Million Euro gegen Polen verhängte, dessen Zahlung Warschau bis heute verweigert.

Gleichzeitig hat der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro das polnische Verfassungsgericht mit der Frage befasst, ob dieses vom EUGH verhängte tägliche Zwangsgeld mit der polnischen Verfassung vereinbar sei, und zwar in einer Frage, die den Aufbau und die Funktionsweise von Verfassungsorganen Polens, in diesem Fall der Justiz, betrifft. Die Prüfung dieser Frage durch das polnische Verfassungsgericht ist für den 22. Februar angesetzt. Gleichzeitig weigert sich Warschau auch, das tägliche Zwangsgeld in Höhe von 500.000 € zu zahlen, das die Vizepräsidentin des EUGH in einer Einzelrichtersitzung wegen der Nichtumsetzung ihrer einstweiligen Anordnung zur Stilllegung des Braunkohlebergwerks Turów bis zu einem Urteil in der Hauptsache verhängt hat. Polen ist der Ansicht, dass die Stilllegung des Bergwerks, das Brennstoff für ein Kraftwerk liefert, das zwischen 5 und 7% der nationalen Stromerzeugung sicherstellt,

gegen die europäischen Verträge verstößt, die den Mitgliedstaaten die Kontrolle über die Wahl ihres Energiemixes und die Kontrolle über ihre Energiesicherheit überlassen, und betont, dass eine Entscheidung dieser Größenordnung, die vor einem Urteil in der Hauptsache durch einen Einzelrichter getroffen wird, ein Novum in der Geschichte der Europäischen Union ist.

Am 23. Dezember kündigte Justizminister Zbigniew Ziobro an, dass er auch das Verfassungsgericht mit der Frage der Vereinbarkeit des Konditionalitätsmechanismus mit der polnischen Verfassung befassen werde. Da dieser Mechanismus es der Kommission de facto ermöglicht, Forderungen außerhalb der Bereiche zu stellen, in denen die Mitgliedsländer Souveränität aufgegeben haben, wäre es nicht überraschend, wenn das Verfassungsgericht seine Umsetzung für unvereinbar mit der polnischen Verfassung erklären würde, selbst wenn der EUGH, wie von seinem Generalanwalt vorgeschlagen, entscheiden würde, dass dieser Mechanismus nicht gegen die Verträge verstößt.

In einem Interview für die am 23. Dezember veröffentlichte Zeitung Gazeta Polska codziennie betonte der PiS-Vorsitzende und stellvertretende Ministerpräsident für nationale Sicherheit, Jarosław Kaczyński, dass die Blockierung der Mittel aus dem Aufbaufonds Next Generation EU völlig ohne Rechtsgrundlage sei und eine eklatante Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze darstelle. Allgemeiner kann man lt. Kaczyński heute sagen, dass „die Verträge innerhalb der Europäischen Union aufgehört haben zu gelten und der EUGH zum neuen Gesetzgeber geworden ist“.

Zu folgen:

Zweiter Teil: EU-Rechtsprechungsrecht vs. Verfassung: Urteile und Gegenurteile zwischen dem EUGH und dem rumänischen Verfassungsgericht.

Dritter Teil: Laut dem ungarischen Verfassungsgericht müssen die nationalen Behörden die Untätigkeit der EU in Bezug auf die Einwanderung kompensieren