Von Thibaud Cassel.
Europäische Union – Am Sonntag, den 15. April gewährte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron ein Fernsehinterview von beinahe drei Stunden. Auf halbem Wege zwischen seiner Wahl durch eine breite Mehrheit und den Europawahlen von 2019 hatte das Ereignis sowohl die Form einer Zwischenbilanz wie auch einer politischen Grundsatzerklärung. Es resultiert daraus, dass die Beziehung Frankreichs mit Mitteleuropa zum einem Fiasko wird.
In diesem ersten Teil werden wir diese Konfrontation zwischen „zwei Europas“ analysieren, die einander nicht verstehen. Ein zweiter Teil wird dann dem bösen Erwachen der deutsch-französischen Beziehung unter dem Druck der Visegrád-Gruppe gewidmet.
I. Don Quichotte und die Windmühlen des Illiberalismus
1. Fünf Minuten von hundertsechzig: Emmanuel Macron findet Europa langweilig
Die europäischen Angelegenheiten wurden in einigen Minuten ganz am Ende der Sendung abgefertigt. Zwischen dem, was gesagt wurde, und dem, was nicht gesagt wurde, ist das schon ein Grund zur Sorge.
Als liberaler Tartuffe wandte Emmanuel Macron seine Augen von dem ab, was er nicht sehen wollte, und wurde darin durch die Einleitung des Journalisten gut bedient, der es verdiente, ungekürzt zitiert zu werden: „Wie können Sie Europa neugründen, mit ehemaligen kommunistischen Ländern, die keine Flüchtlinge oder Ausländer aufnehmen wollen; mit dem Europa von Viktor Orbán und seiner Reden, das an die Vorkriegszeit erinnert. Wirklich!“
Darauf versichert der französische Staatschef: „Ich teile überhaupt nicht seine Werte,“ die er etwas später darlegt: „(…) respektieren wir Demokratie nicht mehr! Machen wir uns von der Unabhängigkeit unserer Richter los! Gehen wir nach vorne!“
Man soll diese Worte so bezeichnen, wie sie sind: Das sind brutale und unverhältnismäßige Attacken gegen Regierungen, die von ihren Bürgern – mit breiter Mehrheit – an die Spitze von Mitgliedsstaaten der EU gewählt wurden, die Herr Macron sich anmaßt, neugründen zu wollen. Dieser Ostrazismus scheint zumindest ein Umweg zu sein! Wenn der Zug direkt ist, um nicht grob zu sagen, so ist es, um die Franzosen zu verdutzen und sie davon abzulenken, die Fakten zu betrachten.
2. Das Frankreich von Macron und die V4, zwei radikal auseinandergehende wirtschaftspolitische Ansätze
Der französische Präsident hat sich durchaus über die Wirtschaft seines Landes verbreitet. Es gibt uns die Gelegenheit, die auf beiden Seiten Deutschlands gewählten Optionen zu vergleichen. Polen hat soeben die Beihilfen für Senioren erhöht bzw. die Infrastruktur in den Provinzen verbessert. Es stimmt, dass Mitteleuropa längst keinen tentakelartigen Wohlfahrtsstaat hat wie Frankreich. Allerdings ist es dort im Trend, die Älteren zu schützen, statt sie auszupressen. Ferner entwickelt Polen seit zwei Jahren eine ehrgeizige Familienpolitik, um die Geburtenrate wieder steigen zu lassen. Diese Ambition ist in Mitteleuropa allgemein, wie der in Budapest von der Orbán-Regierung organisierte Familienkongreß dies illustriert. Für die Länder der Visegrád-Gruppe ist die Erneuerung der Generationen die wesentliche Verantwortung eines Volkes und es ist die Rolle des Staates, diese zu begleiten.
Wie Guillaume Bernard dies zurecht beobachtet, besteht die Steuerpolitik Emmanuel Macrons darin, „um die Pleite zu vermeiden, den Gläubigern zu beweisen, dass er die gefangenen seßhaften sozialen Schichten weiter auspressen kann, während er die Rentabilität der Kapitalinvestitionen begünstigt, die hingegen wandern können.“
3. Masseneinwanderung: das absolute Tabu
Nicht nur wirtschaftlich verteidigt die V4 diejenigen, die da sind, vor denjenigen, die da vorbeigehen. Die Migrationsfrage liegt freilich im Herzen der Kontroverse. Der größte Grund der Besorgnis für die Westeuropäer wird von den mitteleuropäischen Regierungen an der Wurzel gepackt. Es ist diese Tatsache, die Emmanuel Macron und seine Entourage dazu zwingt, den Mut und den Patriotismus zu verteufeln, die in Mitteleuropa nicht verschwunden sind. Um davon überzeugt zu werden, braucht man bloß die Propagandasendung zu schauen, die auf [dem französischen Kanal] M6 am Abend der Wahlen in Ungarn ausgestrahlt wurde und die zum Thema eines offenen Briefes von Ferenc Almássy wurde. Dass es eine Alternative zum Multikulti-Fatalismus und zum Austritt der europäischen Völker aus der Geschichte gibt, will Emmanuel Macron partout nicht wahrnehmen.
4. Utopie und Wirklichkeit
Diese dogmatische Strenge kontrastiert mit den beeindruckenden Zugeständnissen, die die französische Regierung auf eigenem Gebiet toleriert. Ohne uns allzu sehr über die verlorenen Viertel von zahlreichen französischen Städten auszulassen, die neulichen Blockaden von Universitäten bzw. die Krawallen rund um Notre Dame des Landes werden mit Philosophie wahrgenommen. Als ob man eine gewisse Anarchie auf französischem Boden besser tolerieren würde als das Erscheinen nationaler – und absolut demokratischer – Autonomien im Rahmen der EU.
Dieser Krieg, den Macron gegen Mitteleuropa erklärt, ist vor allem ein heilloses Durcheinander für beide Seiten. Beiden Nachbarn Deutschlands wäre ihr Bündnis nicht zuviel, um die Kräfteverhältnisse innerhalb der EU wieder ins Gleichgewicht zu bringen, die derzeit – kurzfristig – zugunsten Deutschlands gebrochen sind.
Am dringendsten ist es Hand in Hand zu arbeiten, um der deutschen industriellen Konzentration einen Riegel vorzuschieben, um eine kontinentale Spezialisierung in Frage zu stellen, die Deutschland als Hauptfabrik – zumindest mit dem höchsten Mehrwert – konsekrieren würde.
Diese u.a. mit dem Euro verbundene Dynamik der „strukturellen Desindustrialisierung“ ist vor allem für Frankreich und die Mittelmeerländer schädlich, die zu diesem Anlaß mit etwas Verachtung in „PIGS“ (Portugal, Italien, Griechenland, Spanien) umgetauft wurden. Frankreich hätte die Spitze dieses Lateineuropa einnehmen können, doch schwelgte es sich in der illusorischen und schmeichelhaften Rolle des Mitsiegers. Mitteleuropa profitiert von der florierenden deutschen Industrie, deren Werkstatt sie ist. Aber sie hängt auch in erdrückender Weise von den durch den Investor diktierten Bedingungen ab. Es gibt heute ein Kräftemessen über die Energieunion, die jede Autonomie der mitteleuropäischen Länder in dem Bereich zugunsten Berlins und der Europäischen Kommission runieren könnte. Frankreich hätte in dieser weitreichenden Kontroverse eine Rolle zu spielen gehabt, aber die ideologische Agenda schaltete jedes Gefühl für Realpolitik aus.
Vom strategischen Fehler zum zivilisatorischen Irrtum
Auf der europäischen Szene kann man sagen, dass Frankreich einzig und allein mit Deutschland sich für „große Pläne“ einsetzen will, welche heute noch nicht näher definiert sind. Sogar Europa scheint für die En Marche-Raserei zu eng zu sein.
Macron baut lieber auf saudischem Sand als auf polnischer Erde. Er stützt sich auf die letzten Überbleibsel des internationalen Formats Frankreichs, doch nicht um aus eigenem Glanz sondern bloß als Schimmer der amerikanischen Interessen zu scheinen. Dadurch belastet er die Glaubwürdigkeit Frankreichs als ausgleichende Kraft im Konzert der Nationen, und erstickt im Keim das Projekt einer europäischen Verteidigung: die atlantische Gemeinschaft schaltet die kontinentale europäische Gemeinschaft aus.
Diese Fehler werden nicht ohne Konsequenzen sein.
Frankreich maßt sich an, eine europäische post-zivilisationelle Revolution und eine Politik globaler Reichweite gleichzeitig zu führen. Es könnte auch in beiden Angelegenheiten seine Illusionen bald aufgeben müssen, denn ihm gegenüber steht ein Mitteleuropa, das demütig, hartnäckig und in den Augen Deutschlands zuverlässiger ist.
Diesem Spiel der Bündnisse zwischen Deutschland, Frankreich und Visegrád werden wir den zweiten Teil dieses Artikels widmen.