Von Olivier Bault.
Polen – Die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) könnte beinahe von einer Verfassungsmehrheit träumen. Ist das in Polen mit dem Verhältniswahlrecht überhaupt möglich? Die DʼHondtsche Methode, die für die Berechnung der im Sejm vergebenen Sitze angewandt wird, gibt dem Sieger freilich einen Vorteil bei der Neuverteilung der Stimmen der Parteien und Koalitionen, die die notwendige Hürde – von 5% für die Parteien und 8% für die Wahlbündnisse – nicht erreicht haben. So konnte die Vereinigte Rechte – sprich der PiS und zwei kleine verbündete Parteien – im Herbst 2015 die absolute Mehrheit mit 37,5% der Stimmen erlangen. Tatsächlich haben ihr die Koalition der Vereinigten Linke, die radikale Linke und die liberal-konservative Rechte eine bedeutende Stimmreserve zum Verteilen gegeben, da sie diese schicksalhafte Hürde nicht erreichen konnten. Für die kommenden Parlamentswahlen, die höchstwahrscheinlich im Oktober stattfinden werden – das genaue Datum ist noch nicht festgelegt worden –, ist die linksliberale Europäische Koalition der Europawahlen in drei unterschiedliche Wahlbündnisse zerplatzt, und falls zwei dieser Blöcke die erforderliche 8%-Hürde nicht erreichen sollten, dann könnte eine Verfassungsmehrheit zum Greifen nah werden, und das ist entsprechend heute die wirkliche Frage, denn nach dem sehr deutlichen Sieg des PiS bei den Europawahlen vom 26. Mai zweifeln nur wenige Kommentatoren noch daran, dass seine derzeitige Mehrheit bestätigt werde.
Eine am 17. Juli von der Tageszeitung Rzeczpospolita veröffentlichte Umfrage gab den PiS um einen Sitz knapp unter der absoluten Mehrheit im Falle einer Fortführung der Europäischen Koalition mit 42,7% der Stimmen für den PiS, 38,5% für die Europäische Koalition und ca. 8% (knapp unter der Hürde) für eine etwaige Koalition aus der LGBT-Partei Wiosna (Frühling) und der linksradikalen Partei Lewica Razem. Mit einer zersplitterten Opposition gab diese gleiche Umfrage dagegen 43% der Stimmen für den PiS und die folgenden Ergebnisse für die Parteien besagter Europäischen Koalition: 26,1% für die Bürgerplattform (die liberale Partei von Donald Tusk), 5,9% für die post-kommunistische SLD, 4,4% für die Bauernpartei PSL und 4,2% für Wiosna.
Für die PSL mit der ländlichen eher konservativen Wählerschaft wurde die Entscheidung, die bürgerliche Polnische Koalition vermutlich christlich-demokratischer Prägung zu gründen, gleich nach der Niederlage vom 26. Mai getroffen, um so zu versuchen, die traditionellen Wähler der Partei zurückzuholen, die die fortschrittlich-libertäre, antiklerikale und offen pro-LGBT-Wende kaum goutiert hatten, die die Linke – mit der Zustimmung der Liberalen der Bürgerplattform – der Europäischen Koalition auferlegt hatte, und daher lieber für den PiS gestimmt hatten. Blieb noch abzuwarten, ob die ehemals christlich-demokratische aus dem linken Flügel der ehemaligen Gewerkschaft Solidarność hervorgegangene PO mit den post-kommunistischen Sozialdemokraten der SLD bleiben würden. An der Basis und bei den Lokalpolitikern der PO ist diese Allianz nicht nach jedermanns Geschmack. Schließlich sind es die Liberalen gewesen, die die Entscheidung am 17. Juli trafen: sie werden ihre Allianz mit den Post-Kommunisten nicht fortsetzen.
Somit wird es im Herbst drei gegeneinander konkurrierende Oppositionsblöcke geben:
- Der bedeutendste wird von der Bürgerplattform, der liberal-libertären Partei Nowoczesna bzw. einer feministischen pro-Abtreibung-Bewegung unter der Bezeichnung „Bürgerkoalition“ (KO) gebildet, die bei den Regional- und Gemeindewahlen im vergangenen Herbst einigermaßen reüssiert hatte. Er bestätigt dabei seine fortschrittliche Neigung, indem er u.a. vorschlägt, zivile Partnerschaften für Homosexuelle einzuführen. Die PO hat übrigens nicht wirklich mehr die Wahl, auch wenn diese Entwicklung ein gefundenes Fressen für den PiS von Jarosław Kaczyński darstellt, der somit die gemäßigten bürgerlichen Wähler für sich gewinnen kann, während die Nationalisten, Liberal-Konservativen und pro-Leben-Katholiken auf seinem rechten Flügel weiterhin zu schwach bleiben, um ihm Sorgen bereiten zu können. Denn tatsächlich mangels eines charismatischen Führers in der Person des äußerst glanzlosen und ungeschickten Grzegorz Schetyna, der es bewiesen hat, dass er von einem Tag zum andern alles und das Gegenteil sagen kann (u.a. über die Frage der zivilen Partnerschaften), sind die Hauptvertreter der PO in den Medien die jeweiligen Bürgermeister von Danzig und Warschau mit ihren „LGBT-Charten“ und ihrem Hang, sich als „Frontalopposition“ gegen die Regierung zu benehmen.
- Rechts von der KO findet man die Polnische Koalition der PSL, deren Glaubwürdigkeit von der Teilnahme an der Europäischen Koalition sehr gelitten hat. Solange ihr Anführer Władysław Kosiniak-Kamysz an der Spitze der PSL bleiben wird, soll es schwierig bleiben, dieser Partei abzunehmen, dass sie wieder konservativ sei bzw. an den christlichen Werten hänge. Die PSL steht im Gespräch mit der national-konservativen Partei Kukiz ʼ15, doch bevor er es in Betracht zog, ein Bündnis mit der PSL zu schließen, hatte Paweł Kukiz, der Anführer von Kukiz ʼ15, diese Partei mit einer „mafiösen Gruppe“ verglichen.
- Links von der KO findet man eine linksradikale Koalition, die die Post-Kommunisten der SLD, die LGBT-Aktivisten von Wiosna sowie die linksradikale Part Lewica Razem sammelt, deren Anführer noch vor kurzer Zeit behauptete, dass die SLD sich nicht als links bezeichnen dürfe, da sie dem gleichen neoliberalen Establishment angehöre wie die PO und der PiS.
Übersetzt von Visegrád Post.