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Éric Zemmour: „Wir sollten uns mit der Visegrád-Gruppe verbünden, um unsere Identität zu schützen“

Lesezeit: 8 Minuten

Interview mit dem französischen Autor, Journalisten und Polemiker Éric Zemmour: „Ich denke, dass wir Franzosen uns heute [mit der Visegrád-Gruppe] verbünden sollten, um eine gewisse Vorstellung Europas, der europäischen Identität zu bewahren, die vor allem eine christliche bzw. griechisch-römische [Identität] ist.“

Im März 2019 war Éric Zemmour beim Mathias Corvinus Collegium (MCC) in Budapest als Gast auf einem Symposium über Einwanderung namens „Einwanderung: die größte Herausforderung unserer Zeit?“ Zu diesem Anlass stellte ihm Ferenc Almássy ein paar Fragen über Mitteleuropa, Illiberalismus bzw. seine Meinung zur Migrationsfrage, einem wichtigen Thema in Mitteleuropa.

Das Interview, das als Video auf TV Libertés verbreitet wurde, wird nun auch in schriftlicher Form veröffentlicht.

Éric Zemmour und Ferenc Almássy in Budapest. Bild: Visegrád Post

Ferenc Almássy: Herr Zemmour, guten Tag, danke für dieses Gespräch. Wir sind auf dem Migrationsgipfel in Budapest. In diesem Gespräch für TV Libertés und die Visegrád Post möchte ich Ihnen eine erste Frage stellen: Ungarn ließ 2014 mit dem Konzept des Illiberalismus von sich reden. Was ist Illiberalismus? Wie sehen Sie das? Welch ist Ihre Vision von diesem von Viktor Orbán formulierten Konzept?

Éric Zemmour: Wenn Sie wollen ist das ein Konzept, das der neulichen Entwicklung entspricht, das – würde ich sagen – dem Ausarten der westlichen liberalen Demokratie entspricht. Wenn Sie zwei Minuten haben, erkläre ich mich: es ist ein kompliziertes, sehr theoretisches Problem, das gewöhnlich die Leute überfordert – dafür habe ich Verständnis, aber es ist eine grundlegende Sache.

Ursprünglich ist die liberale Demokratie wie man es eben sagt… demokratisch und liberal. Die Demokratie was ist das? Es ist die Macht des Volkes, durch das Volk und für das Volk, sprich das Gesetz der Mehrheit, die man durch den Liberalismus kompensiert. Das heißt, dass man seit Tocqueville weiß, dass die Gefahr der Demokratie es ist, dass die Mehrheit die Minderheiten tyrannisiere. Man sagt also „liberal“, das heißt, dass man die individuellen Freiheiten und selbstverständlich die Marktwirtschaft respektiert. Und man denkt – übrigens mit einer gewissen Treuherzigkeit, doch ist es nicht so wichtig –, dass die Marktwirtschaft die individuelle Freiheit, die Meinungsfreiheit, die Redefreiheit, die Handlungsfreiheit, die Religionsfreiheit, usw. fördern und schützen werde.

Was man aber wohl verstehen muss, ist, dass die heutige liberale Demokratie nicht mehr die liberale Demokratie ist. Das heißt, dass man so viel Angst vor der Tyrannei der Mehrheit gehabt hat, dass man – insbesondere juristische – Mechanismen ausgedacht hat, die eben im Namen der berühmten Erklärung der Menschenrechte dieses Gesetz der Mehrheit kontrollieren, verriegeln und widersprechen; man hat Richtern erlaubt, obskure bzw. philosophische Prinzipien eigentlich nach ihrem Gutdünken zu interpretieren, die ins positive Recht nicht hinein dürften, und die die Richter ins positive Recht erzwungen haben. Das hat zur Konsequenz, erstens, die Macht des Staates einzuschränken, und zweitens, das Gesetz der Mehrheit in Schach zu halten. Man hält das Gesetz der Mehrheit so sehr in Schach, dass die Einzelperson zum Souverän geworden ist, der sich um die Mehrheit gar nicht schert, dass die Minderheiten zu Tyrannen geworden sind, die also die Mehrheit tyrannisieren und ihr das aufzwingen, was sie nicht will.

Die Einwanderung ist die Quintessenz dieses Konflikts zwischen vom Richter geschützten aktiven bzw. tyrannischen Minderheiten und der Mehrheit. Und deshalb kommt dieses Konzept der illiberalen Demokratie und stößt gegen dieses Ausarten der liberalen Demokratie an. Und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens soll die Demokratie zum Gesetz der Mehrheit zurückkommen und nicht mehr das Gesetz einer juristischen, bürokratischen oder technokratischen Oligarchie sein, der Europäischen Zentralbank, von Brüssel… Und zweitens wollen die Völker, dass ein Menschenrecht, ein wichtiges Menschenrecht anerkannt werde, nämlich das Recht der Völker auf historische und kulturelle Fortdauer. Und nicht dass fremde Kulturen im Namen von individuellen Menschenrechten herkommen und sich der tausendjährigen Kultur der Völker aufzwingen und auf immer größeren Gebieten vorherrschen. Die Frage ist also eine grundsätzliche.

Sie ist sehr schwierig zu erklären, denn sie wird von der Propaganda überrannt, die Ihnen im großen und ganzen sagt: „Er ist gegen die liberale Demokratie, er ist also gegen die Freiheit und für die Diktatur.“ Ab diesem Moment verstehen Sie aber, dass es genau das Gegenteil ist. Es ist sehr schwierig, darüber zu diskutieren, aber ich glaube, dass man diese Debatte weiter erzwingen soll.

Ferenc Almássy: Es gibt viele Karikaturen über Mitteleuropa, das man weiterhin „Osteuropa“ nennt. Viele sind postkommunistische Länder, die unter dem Joch Moskaus gestanden sind. Welche Beziehungen hat Frankreich im allgemeinen mit dieser Region, insbesondere heute? Und wie sehen Sie persönlich diese ganze Region und ihre heutige Rolle in Europa?

Éric Zemmour: Für Frankreich gibt es zweierlei. Es gibt zuerst eine romantische Vision: Es ist sie Kaiserin Sisi, es ist Maria Walewska, die Liebhaberin Napoleons, es ist auch die Liebhaberin des Generals de Gaulle, eigentlich des Leutnants de Gaulle im Jahr 1920. Wie Sie sehen gibt es also eine Art Romantik zwischen Frankreich und diesen Ländern. Es ist eine Art Wiener Walzer. Das ist im kollektiven Unbewusstsein verankert. Es sind die Bücher von Stefan Zweig, die Gemälde von Klimt… Das gibt es also zuerst im französischen kollektiven Unbewusstsein. Es gibt das und das ist zutiefst positiv. Zweitens gibt es auch eine Art Schuldgefühl, denn wir haben mehrmals den Zug verpasst. Napoleon war der Befreier Polens und war es auch nicht ganz, aber das hat ihm trotzdem einen Krieg mit Russland gekostet, was ihm dann noch die Macht gekostet hat und die französische Hegemonie über Europa beendet hat. Nach dem Ersten Weltkrieg haben wir die Deutschen als herrschende Macht in dieser Region ersetzt, doch haben wir diese Vormachtstellung nicht zu behalten gewusst, und sogar haben wir diese Länder, erst die Tschechoslowakei und dann auch Polen der deutschen Militärmacht überlassen. Soweit für Frankreich.

Ich selber habe eine etwas komplexere Vision, weil ich mich an die Geschichte erinnere. Ich weiß, dass das Österreichische Kaiserreich der große Feind Frankreichs war, ich weiß auch, dass es Frankreich verraten hat. Somit habe ich anfangs keine allzu positive Vision, auch wenn ich gerne Schnitzler, Leo Perutz… lese – Ich mag die mitteleuropäische Literatur.

Sie haben bemerkt, dass all die Länder, die von dieser Welle des Populismus betroffen sind – außer England freilich mit dem Brexit, außer der USA… aber ich meine in Europa – ehemals zu Österreich-Ungarn gehört haben. Das heißt Österreich, Ungarn, aber auch Tschechien, die Slowakei und Italien, von dem ein Teil des Gebiets zu Österreich-Ungarn gehörte.

Und ich denke, dass es kein Zufall ist. Und zwar denke ich das aus zwei ganz einfachen Gründen: Österreich-Ungarn war ein multiethnisches und multikulturelles Reich – und zwar eher multiethnisch als multikulturell –, das letztendlich unter dem Gewicht seiner Widersprüche und des Krieges zerfallen ist, und insbesondere in der Zwischenkriegszeit endete die Neubildung von multikulturellen Gesellschaften in diesen aus diesem Reich hervorgegangenen Ländern (Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, usw.) mit einem Blutbad. Und es ist nun mal so – man muss es sagen, weil jeder es vergessen hat und niemand es wissen will, denn die Wahrheit ist grausam –, es gibt Frieden in ihren Ländern nur, weil man 1945 zehn Millionen Deutsche vertrieben hat. Das haben alle vergessen. Aber es ist durch die Vertreibung von fremdstämmigen Bevölkerungen – denn sie waren seit dem 18. Jahrhundert da – nach Deutschland, dass Ihr eine gewisse ethnische Einheit und Kohäsion und somit Frieden in Euren Ländern gefunden habt.

Zweitens seid Ihr auch – und diese ferne Geschichte ist brennend aktuell – in diesen Regionen der Visegrád-Gruppe und Österreich-Ungarns an der Grenze der damaligen muslimischen Offensive auf Europa. Man kann dabei die Belagerungen von Wien in 1529 bzw. 1683 erwähnen, die beide gescheitert sind. Aus dieser letzten Belagerung haben wir den Croissant behalten, aber ich denke, dass die Österreicher eine andere Erinnerung daran behalten haben, und die ganze Region hat eine andere Erinnerung daran behalten. Es gibt Ungarn, das – wenn ich sagen darf – auf der falschen Seite der Geschichte angefangen hat und drei Jahrhunderte lang unter den muslimischen und osmanischen Joch hat leiden müssen und das überhaupt keine Lust hat, diese islamische Eroberung erneut zu erleben. Und freilich gibt es einen Unterschied in der Erinnerung mit Westeuropa. Dort gab es die islamische Eroberung und Karl Martell schon 732 und nicht erst 1832 oder 1732. Es ist schon ein Unterschied, es sind tausend Jahre dazwischen. Und ich denke, dass dies der Grund der Sache ist, der Grund der Sache zwischen Osteuropa, Mitteleuropa – nennen Sie es, wie Sie wollen: ehemaliges Österreich-Ungarn, Visegrád-Gruppe – und Frankreich, Deutschland und England. Das ist der Unterschied.

Ferenc Almássy: Sprich für Sie ist es – ich fasse zusammen – einerseits die Konfrontation mit der islamischen Welt und andererseits die multiethnischen und multikulturellen Erfahrungen.

Éric Zemmour: Genau. Sie haben Ihr Europa – wenn ich sagen darf – geimpft, im Vergleich

zu unserem, das gerade dabei ist, beides zu erleben: die Islamisierung eines Großteils des Staatsgebiets und das Auftauchen von multikulturellen Gesellschaften, die wir niemals gekannt hatten, und die, für mich, zur gleichen Katastrophe führen werden, wie Ihr einst erlebt habt.

Ferenc Almássy: Wie sehen Sie, wie beurteilen Sie das Management der Migrantenkrise seit 2015? Man weiß ja, dass es die Balkanroute gegeben hat, die man so genannt hat, weil es diesen massiven Zustrom im Sommer 2015 gegeben hat, doch es hat sich 2016 fortgesetzt, vorwiegend aus der Türkei über Griechenland, den Balkan bis zur ungarischen Schengen-Grenze. 2015 hat Viktor Orbán über sich reden lassen, indem er entschieden hat, einen Zaun errichten zu lassen, um die illegale und unkontrollierte Einwanderung drastisch zu stoppen. Wie sehen Sie diese Entscheidung, die gegen alles geht, woran man seit Jahrzehnten in Europa gewöhnt ist.

Éric Zemmour: Die Entscheidung Orbáns ist die Konsequenz von dem, was ich Ihnen eben gesagt habe. Das heißt, dass er die Erinnerung von dem hat, was ich Ihnen eben gesagt habe. Wenn er also eine Million Menschen sieht, vorwiegend Männer und vorwiegend Muslime, deutet er das als eine Invasion. Es fängt wieder an, man muss das sofort stoppen.

Für mich hat er absolut recht. Also baut er eine Mauer. Darüber hinaus verteidigt er die Schengen-Grenze. Europa sollte ihm dafür dankbar sein. Und also selbstverständlich widersetzt er sich der migrationsfördernden und multikulturalistischen Vision der Brüsseler Behörden, die rein wirtschaftlich denken. Wenn sie mehr Einwanderer wollen, dann zieht es die Gehälter nach unten, und sogar diejenigen der einheimischen Arbeiter, also ist das besser für die Produktivität. Darüber hinaus werden sie zu Konsumenten, also ist es gut für den Wachstum… Sehen Sie, das alles ist quantifizierbar. Doch sehen sie den Kampf der Zivilisationen nicht, sie leugnen ihn sogar, da diese Technokraten meinen, dass es gar keinen Kampf der Zivilisationen gebe, weil es nicht mehrere Zivilisationen sondern nur eine einzige universelle weltweite Zivilisation gäbe. Sie leben also in diesen Gedanken… Und Orbán freilich widersetzt sich dem frontal. Daher hat er für mich die richtige Entscheidung getroffen. Aber wie Sie sehen, ist das nicht die Meinung unserer westlichen Eliten.

Ferenc Almássy: Kommen wir zum Schluss auf die V4, also zur Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) zurück. Welch ist Ihre Vision von ihrer Rolle, heute und in der Zukunft?

Éric Zemmour: Ich habe es Ihnen gesagt: Es ist das – würde ich sagen: lustige – Erbe Österreich-Ungarns. Es ist die Rückkehr Österreich-Ungarns und historisch betrachtet bereue ich, dass Frankreich sich 1918 nicht für ein Bündnis mit dieser Gruppe entschieden habe, aber lasst uns die Geschichte nicht neuschreiben… Aber auf jeden Fall denke ich, dass wir Franzosen uns heute mit diesem Block verbünden sollten, um eine bestimmte Konzeption Europas, der europäischen Identität zu behalten, die vor allem christlicher und griechisch-römischer Prägung ist,

auch wenn es Minderheiten geben kann, aber sie müssen Minderheiten bleiben, sonst ist es nicht mehr dieser Kontinent, sonst ist es nicht mehr Europa. Es ist ziemlich einfach zu verstehen: alle Denker vom General de Gaulle bis Paul Valéry haben genau das gesagt, was ich Ihnen eben gesagt habe. Das waren keine Rassisten, das waren keine Islamophoben, wie man heutzutage so dumm meint. Es ist einfach eine Tatsache. Wenn es nicht mehr das ist, dann ist es nicht mehr Europa. Und Europa wird dann einer fremden Zivilisation unterworfen sein. Dann gehen wir in eine andere Zivilisation über.

Ferenc Almássy: Éric Zemmour, ich bedanke mich im Namen von TV Libertés und Visegrád Post.

Éric Zemmour: Danke Ihnen.

Éric Zemmour in Budapest im März 2019. Bild: Visegrád Post.