Von der Redaktion.
Visegrád-Gruppe – Wie überall sonst in der Europäischen Union wurde die Wahlbeteiligung bei den Europawahlenauch in den V4-Ländern eher niedrig. Allerdings gab es bei diesen Europawahlen einen Beteiligungsrekord in allen vier Ländern der Visegrád-Gruppe, wie man es aus folgender Tabelle entnehmen kann:
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Ungarn | Slowakei | Tschechien | Polen |
2019 | 43,37 | 22,74 | 28,72 | 42,96 |
2014 | 28,97 | 13,05 | 18,20 | 23,83 |
2009 | 36,31 | 19,64 | 28,22 | 24,53 |
2004 | 38,50 | 16,96 | 28,32 | 20,90 |
Wahlbeteiligung pro Land in % bei den Europawahlen. Beteiligungsrekord in allen vier V4-Ländern.
Ungarn
Ohne Überraschung war es wieder ein erdrutschartiger Sieg des Fidesz, der national-konservativen Partei Viktor Orbáns mit 52,30% der Stimmen. Für den ungarischen Ministerpräsidenten, der sich einen offenen Krieg mit der „liberalen“ Welt und der Brüsseler Elite liefert, bietet dieser vollkommene Wahlsieg ein nochmaliges Argument für dessen demokratische Legitimität, um seine Politik – gegen Einwanderung, für die christlichen Werte und für die Familien – fortzusetzen bzw. sich noch mehr auf europäischer Ebene einzusetzen. Denn in der Tat werden seine 13 Mandatare – ob sie bei der EVP bleiben oder nicht – ein wichtiges Argument in den kommenden Verhandlungen darstellen. Nach den maltesischen Sozialisten sind in der Tat die Europaabgeordneten des Fidesz im neuen EU-Parlament (2019-2024) die Mandatare mit dem zweitbesten Wahlergebnis EU-weit.
Am zweiten Platz findet man die Demokratische Koalition (DK) des ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, eines Politikers, der die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa befürwortet bzw. wegen der blutigen Zerschlagung der Proteste vom Herbst 2006 in der ungarischen Politik weitgehend umstritten ist. Diesem linksliberalen Politiker wird öfters ein indirektes Zweckbündnis mit Viktor Orbán vorgeworfen, da er als Element der Zwietracht innerhalb der Opposition betrachtet wird, welche ohnehin mit oder ohne Gyurcsány keine Einheit findet.
Am dritten Platz kommt dann die junge mit Emmanuel Macron und Guy Verhofstadt verbündete und blitzschnell gewachsene liberale Partei Momentum. Öfters als die Partei der Budapester Innenstadt verspottet erlebte sie nun auch einen Durchbruch in der Provinz, insbesondere in manchen zweitrangigen Städten.
Auf dem vierten und fünften Platz liefern sich die sozialistische MSZP und die Jobbik ein Kopf-an-Kopf-Rennen und konnten beide gerade noch einen Europaabgeordnetenergattern. Beide Parteien erleben einen – wie deren eigene Funktionäre es selbst zugeben – für ihren Weiterbestand bedrohlichen Niedergang. Dazu kann man auch unseren Beitrag über die Entwicklung der Jobbik nachlesen.
Unter den Parteien, die die 5%-Hürde nicht erreichen und daher den Einzug ins EU-Parlament verpassen, findet man die neue nationalistische Partei László Toroczkais, Mi Hazánk, die satirisch-anarchistische „Ungarische Partei des zweischwänzigen Hundes“ (MKKP) bzw. insbesondere die grün-liberale LMP, die einen möglicherweise fatalen Schlag erleben musste; ihre Parteiführung ist unmittelbar nach nach Verkündung der Wahlergebnisse zurückgetreten.
Slowakei
In der logischen Folge der neulichen Präsidentschaftswahlen, die die 45jährige liberale Juristin Zuzana Čapitová an die Spitze des Staates gebracht haben, wurden die Europawahlen in der Slowakei vom Sieg des Bündnisses zwischen Fortschrittliche Slowakei (Progresívne Slovensko) und ZUSAMMEN – Bürgerliche Demokratie (SPOLU – Občianska Demokracia) mit kaum mehr als 20% der Stimmen gekennzeichnet. Dieser erneute Wahlsieg der liberalen Kräfte könnte eine Wende in der slowakischen Politik darstellen.
Am zweiten Platz kommt die führende Regierungspartei Smer von Ministerpräsident Peter Pellegrini, dem Nachfolger Robert Ficos, des starken Manns der slowakischen Politik. Im in einem derzeit von Misstrauen gekennzeichneten Zusammenhang lässt das bescheidene Ergebnis von 15,72% die Regierungspartei irgendwie blass aussehen, während die Zersplitterung der Stimmen der slowakischen Bürger ebenfalls auf die starke Instabilität deutet, die das Land momentan durchlebt.
Am dritten Platz kommen dann die radikalen Nationalisten von Marian Kotleba, die für eine Überraschung sorgen, da viele sie seit den Regionalwahlen von 2017 auf dem absteigenden Ast gesehen hatten.
Die Christdemokraten der KDH und die liberal-libertäre euroskeptische Partei SAS liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die 10%. Die KDH verliert an Zustimmung doch kann sie ihre beiden Mandatare halten, während die SAS, die 2014 kurz nach den Wahlen von der liberalen ALDE-Fraktion in die konservative EKR-Fraktion gewechselt ist, 3% dazugewonnen hat.
Das Bündnis der Parteien „Gewöhnliche Leute und unabhängige Personen“ (OĽaNO) und „Neue Mehrheit“ (Nová Väčšina, NOVA) – sozusagen ein uneheliches Kind von KDH und SAS… – erlangt ein Mandat.
Bemerkenswert ist auch, dass die Fidesz-nahe Partei der ungarischen Minderheit (MKP) in der Slowakei die 5%-Hürde knapp verpasst, was den Anfang vom Ende der Volksgruppe als politischer Faktor bedeuten könnte.
Unter den anderen Parteien, die die 5%-Hürde nicht erreichen, findet man die patriotische Slowakische Nationalpartei (SNS), die weiter an Zustimmung verliert, und die liberale Most-Híd – die aus der Volksgruppenpartei MKP entstanden ist, sich selbst allerdings als „transnational“ darstellt –, dessen Wähler zweifelsohne von Zuzana Čaputová angetan wurden.
Tschechien
Der Partei von Ministerpräsident Andrej Babiš, ANO 2011, ist es auch gelungen, diese Wahl trotz der ständigen Angriffe gegen ihn zu gewinnen. ANO 2011 verbessert sogar ihr Ergebnis gegenüber 2014, als die liberal-konservative Partei 16,13% der Stimmen erreicht hatte. Dieser Sieg stellt eine neue Dynamik für den Ministerpräsidenten, Milliardär und Geschäftsmann dar, der sich gerne humorvoll gibt und sich in die Politik engagierte, um die Normen zu brechen bzw. die wirtschaftliche Situation des Landes im Sinne einer liberaleren Vision zu verbessern. Als ein wichtiger Akteur des Erstarkens der V4 steht Herr Babiš, dessen Partei theoretisch ALDE-Mitglied ist – wie übrigens Macrons „La République en Marche“ (LaREM) –, allerdings auf einer politischen Linie, die massive Einwanderung, den Euro bzw. einen Ausbau der Paris-Berlin-Achse kategorisch ablehnt.
Am zweiten Platz findet man die liberal-konservative und eurokritische ODS, das historische Schwergewicht der tschechischen Politik. Mit vierAbgeordneten in der EKR-Fraktion kann sie ein Zweckbündnis mit Babiš auf europäischer Ebene bilden, um die tschechischen Interessen zu verteidigen.
Die Piratenpartei bestätigt ihren Platz als drittgrößte Kraft im Lande. Diese liberale und fortschrittliche Partei stützt sich auf eine Generation, die durch das Internet in die Politik geraten ist, sich durch die Herausforderungen der Informationstechnologien betroffen fühlt und eine direktere bzw. in die Ideologie der sog. „open society“ eingebettete Demokratie befürwortet.
Am vierten Platz befindet sich die liberal-konservative Partei TOP 09 (Tradition, Verantwortung, Wohlstand) Karl Schwarzenbergs, die Mitglied der EVP ist und eine unausweichliche Größe in der tschechischen Politik darstellt, obschon sie leicht an Einfluss verliert und nur noch drei Mandate – gegen bisher vier – erhalten konnte.
Am fünften Platz kommt die Partei „Freiheit und direkte Demokratie“ (SPD) des japanisch-tschechischen Politikers Tomio Okamura, eine patriotische, islamkritische, einwanderungsfeindliche und äußerst EU-skeptische Partei, die ins Europaparlament in die ENF-Fraktion mit zwei Mandataren einzieht.
Die Christliche und Demokratische Union – Tschechoslowakische Volkspartei (KDU-ČSL), EVP-Mitglied, befindet sich am sechsten Platz. Sie verliert ein Mandat und wird nur noch zwei Abgeordnete nach Brüssel schicken.
Schließlich kommt noch die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens, die auf einer sozialistischen bzw. marxistischen Linie geblieben ist, sich daher gegen die Einwanderung ausspricht, um die tschechischen Arbeiter zu verteidigen, und sich trotz eines allmählichen Niedergangs noch oberhalb der 5%-Hürde halten kann.
Ähnlich wie in der Slowakei ist die politische Landschaft in Tschechien äußerst eklektisch und zersplittert, was u.a. aus einer dauerhaften Krise des tschechischen politischen Systems resultiert.
Polen
In Polen war es der erste Wahlsieg des PiS bei Europawahlen. Die seit dem Herbst 2015 regierende national-konservative Partei verbessert deutlich ihr Ergebnis von 2014 (+11,32%). Sie rechnete mit diesen Wahlen – sechs Monate vor den Sejm-Wahlen – um ihre Mobilisierungsfähigkeit zu messen. Das wurde nun getan und das Ergebnis ist für den PiS durchwegs zufriedenstellend. Dadurch gestärkt beabsichtigt die führende Partei der EKR-Fraktion sich um so mehr Gehör in Brüssel zu verschaffen.
Am zweiten Platz findet man die europäistische Koalition aus der Bürgerplattform (PO, EVP-Mitglied), den Liberal-Libertären von Nowoczesna, der Bauernpartei PSL, der Sozialdemokraten der post-kommunistischen SLD und den Grünen, was ein Scheitern der Strategie der Einheitsfront darstellt und sich bedrohlich für die Opposition angesichts der Parlamentswahlen vom kommenden Herbst ankündigt. Allerdings ist der Abstand zwischen PiS und Europäischer Koalition (KE) nicht allzu gross und beide Blöcke stellen eindeutig die zwei Hauptfaktoren in der polnischen Politik dar.
Als dritte Kraft kommt die neulich gegründete Bewegung Wiosna (Frühling) des LGBT-Aktivisten Robert Biedroń mit einem nicht unbedeutenden Ergebnis für diese im Februar 2019 ins Leben gerufene radikal-fortschrittliche Partei, die eine LGBT- und europäistische Linie gleifalls verfolgt. Alles deutet darauf, dass diese Bewegung, die sich um den politischen LGBT-Aktionismus artikuliert, zum dauerhaften Stein im Schuh des katholisch-konservativen PiS werden könnte.
Am vierten Platz befinden sich die Patrioten der Konfederacja, einer bunt gemischten Vereinigung von Nationalisten rund um den umstrittenen libertären Monarchisten Janusz Korwin-Mikke, der u.a. wegen seiner provokativen Äußerungen über die Frauen, die Demokratie, das III. Reich bzw. die Europäische Union aufgefallen ist. Letztendlich verpassen sie die 5%-Hürde.
Die Bewegung Kukizʼ15 ist in sich zusammengefallen, sie verpasst die 5%-Hürde und riskiert somit, aus der politischen Landschaft Polens zu verschwinden. Sie hat keinen Europaabgeordneten.