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Sargentini-Bericht: und nun? Konsequenzen und Analyse der Abstimmung

Lesezeit: 6 Minuten

Abstimmung über den Sargentini-Bericht: die ungarische Regierung prangert Wahlfälschung an – die Populisten hinter Orbán – die französischen LR-Mandatare sind gespalten – die Jobbik enthält sich – Kurz läßt Orbán fallen

Europäische Union – Der Sargentini-Bericht, der behauptet, dass Ungarn die Werte der Europäischen Union verletze und die Einleitung eines Verfahrens gemäß Artikel 7 des EU-Vertrags verlangt, das zur Suspendierung des Stimmrechts Ungarns innerhalb der gemeinschaftlichen Institutionen führen kann, ist am Mittwoch, den 12. September mit einer breiten Mehrheit angenommen worden.

Ergebnisse der Abstimmung über den Sargentini-Bericht am 12. September 2018. Von oben nach unten: Teilnehmer, pro, contra, Enthaltungen.

Eine umstrittene Abstimmung?

Hier finden Sie das Abstimmungsverhalten der einzelnen 750 Mitglieder des Europaparlaments:

_ 693 Teilnehmer (57 Abgeordnete waren abwesend)

_ 448 Pro-Stimmen (65%)

_ 197 Contra-Stimmen (28%)

_ 48 Enthaltungen (7%)

Die Ansprache Viktor Orbáns, der höchstpersönlich gekommen war, hat somit keine Trendwende erreicht, auch nicht innerhalb der EVP-Fraktion, wo die Fidesz-Madatare sitzen. Das englischsprachige 109-seitige Dokument, das an alle Abgeordneten geschickt wurde, auch nicht.

Orbán war selber am Vortag der Abstimmung nicht optimistisch und behauptete deutlich in der Pressekonferenz nach seiner Ansprache, dass die Anweisung von Berlin aus gekommen war.

Für die Anekdote soll bemerkt werden, dass am Morgen der gleichen Plenarsitzung an diesem 11. September ein weiterer Regierungschef eingeladen war, vor den Europaparlamentariern zu sprechen, und zwar der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras. Während Tsipras die Möglichkeit bekam, insgesamt ca. eine Stunde während einer Debatte von zweieinhalb Stunden zu sprechen, durfte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán nur 11 Minuten während einer Debatte sprechen, die ebenfalls zweieinhalb Stunden dauerte.

Infolge der Abstimmung haben die ungarischen Behörden rasch angeprangert, was sie als eine Wahlfälschung betrachten. Denn in der Tat, um die vom Artikel 7 vorgesehene Prozedur einleiten zu können, müssen 2/3 der Mitglieder des Europaparlaments für den Antrag stimmen. Wenn man nur die Pro- und Contra-Stimmen berücksichtigt, ergibt es 448 Pro-Stimmen von 645, sprich 69% der abgegebenen Stimmen. Dagegen, wenn man ebenfalls die Enthaltungen (48 insgesamt) berücksichtigt, stellen die Pro-Stimmen nur noch 65% der abgegebenen Stimme dar. Daher der Wille der ungarischen Behörden, gegen das Votum zu berufen.

Die Populisten hinter Orbán

Einzig die vom Franzosen Nicolas Bay geleitete ENF-Fraktion (Europa der Nationen und der Freiheit), wo die Mandatare des französischen Rassemblement National (ehemals Front National), der österreichischen FPÖ bzw. der italienischen Lega Nord sitzen, hat geschlossen gegen den Sargentini-Bericht gestimmt. Umgekehrt hat die Grüne/EFA-Fraktion (Grüne/Europäische Freie Allianz) einstimmig für den Sargentini-Bericht gestimmt.

Innerhalb der EFDD-Fraktion (Europa der Freiheit und der direkten Demokratie) von Nigel Farage, dessen Vergleich zwischen der UE und der Breschnew-Doktrin der beschränkten Souveränität von Orbán während dessen Pressekonferenz positiv erwähnt wurde, gingen allein die italienischen Mandatare der Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle) ihren eigenen Weg und stimmten für den Bericht.

Die andere Fraktion, die mehrheitlich gegen den Bericht stimmte, ist die EKR-Fraktion (Europäische Konservative und Reformer), die aus den britischen Konservativen und den Mandataren der polnischen Regierungspartei PiS besteht.

Die französischen LR-Mandatare (Les Républicains) gespalten innerhalb einer einigermaßen disziplinierten EVP-Fraktion

Innerhalb der Europäischen Volkspartei stellt sich das Abstimmungsverhalten wie folgt dar:

_ 114 Pro-Stimmen

_ 57 Contra-Stimmen (darunter die 12 Mandatare vom Fidesz)

_ 28 Enthaltungen

_ 20 abwesende Abgeordnete

Was die französische LR-Delegation betrifft, die aus 20 Mandataren besteht, merke man 2 Abwesende, 6 Enthaltungen (darunter Michèle Alliot-Marie, Arnaud Danjean, Rachida Dati, Geoffroy Didier bzw. Brice Hortefeux), 3 Contra-Stimmen (darunter Nadine Morano) und 9 Stimmen für den Sargentini-Bericht.

Die Jobbik enthält sich, die LMP ist während der Abstimmung mutwillig abwesend, die Mandatare der ungarischen linksliberalen Linken haben für den Sargentini-Bericht gestimmt

Was die ungarischen nicht Fidesz-Mandatare betrifft, haben die linksliberalen Mandatare (MSZP, DK, Együtt) alle für den Sargentini-Bericht gestimmt. Der grüne LMP-Abgeordnete Tamás Meszerics war während der Abstimmung mutwillig abwesend.

Der einzige übriggebliebene Jobbik-Abgeordnete Zoltán Balczó hat sich der Stimme enthalten. Dies bestätigt die Strategie der Jobbik einer dezidierten Opposition gegen den Fidesz und gegen Orbán, die zur einer Identitätskrise innerhalb der Partei und neulich zu einer Abspaltung geführt hat. Diese Enthaltung könnte unter den Jobbik-Wählern jedoch sowohl die Anhänger der nationalen Einheit hinter der ungarischen Regierung wie diejenigen einer fundamentalen Opposition gegen den Fidesz enttäuschen bzw. nur wenige Leute in dieser einst radikalen Partei zufriedenstellen.

Die beiden anderen 2014 auf der Jobbik-Liste gewählten Mandatare haben gegen den Bericht gestimmt. Krisztina Morvai, die lange eine Galionsfigur der Jobbik war, hat sich endgültig von ihren früheren Kameraden gelöst, um 2018 den Fidesz zu unterstützen, als die Jobbik sich der liberalen Opposition annäherte, um eine „Alle gegen Orbán“-Koalition in Betracht zu ziehen.

Was Béla Kovács betrifft, so ist er seit der KGBéla-Affäre vom öffentlichen Leben beinahe abwesend bzw. sogar offiziell im Dezember 2017 aus der Jobbik ausgetreten, um seine ehemalige Partei im Hinblick auf die Wahlen vom April 2018 nicht weiter zu stören.

Kurz läßt Orbán fallen

Unter den Ausfällen, die Orbán erleben mußte, ist der derjenige des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz einer von denen, die am meisten überrascht haben. Warum dieser Ausfall? EVP-Treue? Befehl aus Berlin? oder der Wille, sich vom Störfaktor Orbán zu distanzieren?

Wie dem auch sei, drückte sich der Leiter der ÖVP-Delegation Othmar Karas klar und deutlich aus: „Nicht Orbáns, sondern Junckers Europa ist unser Europa.” Othmar Karas sprach sich ebenfalls für eine Suspendierung der Fidesz innerhalb der Europäischen Volkspartei aus.

Weitere Hypothesen können ebenfalls erwähnt werden, wie die sensible Akte –worüber die Visegrád Post berichtete – des Schwarzmeergas, wo die ungarischen und österreichischen Interessen auseinandergehen: „manche Tribünen [warfen] auch Dragnea offen vor, der revidierten BRU-Variante (Bulgarien-Rumänien-Ungarn) des ursprünglichen BRUA-Projektes zugestimmt zu haben; das Verschwinden des „A“ (für „Österreich“), das im ursprünglichen Kürzel vorhanden war, verdeutlicht den Ausschluss Österreichs, sprich die Tatsache, dass die Endstelle der Fernleitung sich nunmehr offiziell auf ungarischem Gebiet befinden soll – eine von Ungarn aufgezwungene Änderung, das darauf besorgt ist, das Gravitationszentrum dieser neuen südosteuropäischen Gas-Erdkunde nicht aus seinem Gebiet hinauszulassen.

Die Mandatare der rumänischen PSD bzw. die tschechischen und slowakischen Partner ließen sich vermissen

Auf rumänischer Seite wurde das Abstimmungsverhalten der PSD-Europaabgeordneten von Liviu Dragnea ebenfalls ganz genau beobachtet. Umso mehr, als aufgrund der von der PSD geführten Politik bzw. der gewalttätigen Demonstrationen der Opposition, die mehrmals versuchte, eine Farbenrevolution einzuleiten, die rumänische Regierung früher oder später genauso ins Visier Brüssels geraten könnte.

Obwohl „sozialistisch“ und Mitglied der sozialistischen Fraktion im Europaparlament handelt die rumänische PSD in einem nationalen Rahmen, wo die Begriffe links und rechts beinahe keine Bedeutung mehr haben. Es ist in der Tat diese „linke“ Partei, die sich derzeit bemüht, eine ausschließlich heterosexuelle Definition der Ehe durchzusetzen, indem sie versucht, ein Referendum diesbezüglich abzuhalten, das der „rechte“ Präsident Johannis verhindern möchte.

Außer einiger Abwesenden und einer Enthaltung haben alle PSD-Mandatare für den Sargentini-Bericht gestimmt. Im vergangenen März hatte sich jedoch eine größere Anzahl von PSD-Abgeordneten an die Seite Polens geschlagen.

Im slowakischen Lager haben sich drei von vier Mandataren der Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Robert Fico der Stimme enthalten, während einer für den Antrag stimmte. Als Mitglieder der sozialistischen Fraktion war es ihnen nicht leicht, mehr zu tun. Man merke immerhin, dass sie im März gegen den Antrag gestimmt hatten, der die Einleitung des Artikels 7 gegen Polen verlangte.

Im tschechischen Lager sind die Mandatare von Ministerpräsident Andrej Babiš Mitglieder der liberalen vom Belgier Guy Verhofstadt geleiteten ALDE-Fraktion und haben alle für den Sargentini-Bericht gestimmt. Sie hatten schon gleichermaßen gegen Polen gestimmt.

Ohne Überraschung dagegen haben die vier Abgeordneten der ungarischen Minderheiten in Rumänien und in der Slowakei alle den Sargentini-Bericht abgelehnt.

Die Gründe für diese unterschiedlichen Abstimmungsverhalten sind vermutlich vielfältig. Unter den Hypothesen, die man erwähnen kann, erinnere man an das geringe Interesse für das politische Leben im Europaparlament in den ost- und mitteleuropäischen Ländern. Davon zeugen deutlich die 87%, die 2014 in der Slowakei an der Wahl gar nicht teilnahmen. In diesen Ländern wird das Europaparlament öfters als ein ferner Ort betrachtet, wo man den oder den verbannen bzw. wichtigen aber alternden Persönlichkeiten eine sympathische Frühpension bieten kann, wenn man nicht gleich Angehörigen einen Posten verschafft.

Im Vergleich gilt der Ernst der Fidesz-Delegation einigermaßen als Ausnahme in der Region.

Dies ist jedoch keine Exklusivität für die Länder Ost- und Mitteleuropas. In Frankreich, wo aufgrund des Mehrheitswahlrechts immer wieder wichtige Persönlichkeiten des politischen Lebens aus dem nationalen Parlament ausgeschlossen werden, suchen sich manche von ihnen einen Zwischenposten im Europaparlament, bevor sie ihr Glück nochmals auf nationaler Ebene versuchen.

Angesichts dessen, dass das Europaparlament nun auch wichtigere Themen behandelt, ist es durchaus denkbar, dass die nächsten Listen für die Wahlen vom Mai 2019 etwas ernsthafter gebildet bzw. dass die Mandatare dann bezüglich der Interessen und Anweisungen ihrer Parteien mehr Disziplin zeigen werden.

Und nun?

Vorausgesetzt die Abstimmung wird trotz der ungarischen Berufung bestätigt, stellen sich mehrere Fragen bezüglich dieses Votums.

Was den Fidesz betrifft, so scheint dessen EVP-Mitgliedschaft immer schwieriger. Orbán hat jedoch deutlich wissen lassen, dass er keinesfalls die Absicht habe, die EVP zu verlassen und erinnerte daran, dass er dorthin am Ende der 1990er Jahre vom deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl gebeten wurde (Zuvor war der Fidesz Mitglied der liberalen Internationale). Er hat ebenfalls daran erinnert, dass es bei seinem Besuch in Mailand, wo er sich mit dem italienischen Innenminister Matteo Salvini traf, nicht um Parteipolitik sondern um Grenzschutz ging.

Der nächste Schritt bezüglich des juristischen Verfahrens nach dem Artikel 7 ist der Europäische Rat, der aus den EU-Staats- und Regierungschefs besteht. Im Prinzip verfügt jeder Staat (außer dem angeklagten Staat) über ein Vetorecht, das jedoch technisch durch eine 4/5-Mehrheit umgegangen werden könnte, was die gegenseitige Unterstützung zunichte machen könnte, die Polen und Ungarn einander gewähren könnten, die beide nun vom Artikel 7 betroffen sind, deren Regierungen einander nahestehen und dessen Völker mit einer tausendjährigen Freundschaft verbunden sind.

Diese Abstimmung ist auch definitiv der Auftakt für den Wahlkampf im Hinblick auf die Europawahlen von 2019, wo die (im vergangenen Juli angekündigten) jeweiligen Projekte Orbáns und Macrons nunmehr bis Mai 2019 aufeinander prallen werden. Wie dem auch sei, hat Orbán schon gesagt, dass wenn die EVP sich des Fidesz entledigen und eine Allianz mit den Liberalen und Sozialisten schmieden würde, Europa dann von einer einwanderungsfreundlichen Mehrheit regiert würde und dass die Geschichte, die dann geschrieben werde, nicht mehr diejenige der Europäer sei. Die Debatte wurde somit klar gestellt.